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Putin-Gegner in der Schweiz: «Die Unterschrift für Boris Nadeschdin war für viele der erste politische Akt im Leben»

Boris Nadeschdin blickt in die Kamera.
Das Sammeln von Unterschriften für den Oppositionskandidaten Boris Nadeschdin ist eine Art, um seinen Unmut über die russische Regierung auszudrücken. Auch Russ:innen in der Schweiz sammelten für ihn. Copyright 2024 The Associated Press. All Rights Reserved

Oleg Nenaschew hat in der Schweiz eine Unterschriftensammlung für den Oppositionskandidaten Boris Nadeschdin organisiert. Im Interview sagt er, was er sich davon erhofft.

In Russland gab es im Januar lange Schlangen, weil kritische Russ:innen ihre Unterschrift für Boris Nadeschdins Präsidentschaftskandidatur abgeben wollten.

Nadeschdin musste bis Ende Januar über 100’000 Unterschriften zusammenbringen, um bei den Präsidentschaftswahlen im März als Gegner Putins anzutreten. Putins Wiederwahl gilt als gesichert – es ist keine echte Wahl.

Trotzdem hat sich das Unterschreiben für den Oppositionskandidaten Nadeschdin zu einem Phänomen entwickelt. Es ist eine in Russland eine der letzten Möglichkeiten, Unmut auszudrücken.

Auch international haben Russ:innen Unterschriften gesammelt, wie Oleg Nenaschew in der Schweiz. Dies, obwohl Boris Nadeschdin selbst mitteilte, die Unterschriften aus dem Ausland nicht einzureichen.

Im Gespräch mit SWI swissinfo.ch erzählt Nenaschew, der seit 2016 in der Schweiz lebt, warum er trotzdem eine Unterschriftensammlung in der Schweiz organisiert hat und wie das Leben in der Schweiz seine Sicht auf Russland verändert.

Unterschriftensammlung im Bahnhof Bern
Die Unterschriftensammlung für Boris Nadeschdin als Präsidentschaftskandidat ist in Russland plötzlich zu einem politischen Phänomen geworden. Auch ausserhalb Russlands werden Unterschriften für diesen Kandidaten gesammelt, zum Beispiel in der Schweiz. swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch: Wie haben Sie die Unterschriftensammlung organisiert?

Oleg Nenaschew: Alles wurde in letzter Minute organisiert. Der Prozess selbst ist ohnehin so ausgerichtet, um unabhängigen Kandidierenden Steine in den Weg zu legen.

Ausserhalb Russlands dachten bis zum 20. Januar 2024 nur Wenige daran, Unterschriften zu sammeln. Vertretende der russischen Diaspora im Ausland hielten dies ohnehin für sinnlos, weil jede aus dem Ausland stammende Unterschrift ein Risiko ist, dass der Kandidat doch nicht registriert werden darf.

Das russische Gesetz verbietet so genannten «ausländischen Agenten» das Organisieren einer Unterschriftensammlung. Doch potenziell sind alle, die im Ausland leben, solche Agentinnen oder Agenten, weil sie «ausländischem Einfluss ausgesetzt sind».

Dies ist ein Beispiel, wie Repression in der Gesetzgebung verankert ist – und der Grund, weshalb die Sammlungen international erst begannen, als das Unterschriftensammeln in Russland bereits zu einem Impuls in der Zivilgesellschaft geführt hat.

Wie haben Sie die Russ:innen in der Schweiz über Ihre Sammlung informiert?

Wir haben uns auf lokale Vereine wie «Verein Russland der Zukunft — CH»Externer Link und auf soziale Netzwerke gestützt. Alles geschah innert zwei Tagen, durch das Engagement von einem Dutzend Personen.

Nach meiner Schätzung nach haben wir etwa zweihundert Unterschriften gesammelt. Ein grosser Teil der russischen Diaspora in der Schweiz versucht, die Politik zu meiden oder unterstützt die russische Invasion in der Ukraine.

Ist Ihre Aktion eine Form des Protests?

Ja, das ist sie. Eine Unterschrift für einen Antikriegskandidaten ist eine der wenigen Formen der freien Meinungsäusserung, die von den russischen Behörden bisher nicht kriminalisiert wurden.

Oleg Nenaschew
«Als ich in die Schweiz zog, merkte ich, dass meine Lebenseinstellung der schweizerischen viel näher war als der russischen», sagt Oleg Nenaschew. swissinfo.ch

Unterschriften aus dem Ausland sind Unterschriften von potenziellen «ausländischen Agenten», weshalb sie Nadeschdin nicht einreicht, um den Behörden keinen weiteren Grund zur Ablehnung von Unterschriften zu geben.

Die Unterschriften aus dem Ausland werden nicht gezählt. Was bringt dann eine Unterschrift überhaupt?

Für viele war eine Unterschrift für Nadeschdin die erste politische Aktivität in ihrem Leben, schrieb eine unserer Aktivistinnen. Sie sehen, dass sie nicht allein sind und etwas bewirken können.

Das allein ist ein Schritt zu einem veränderten Selbstbewusstsein in der russischen Gesellschaft. Viele Menschen unterschreiben nicht für Nadeschdin, sondern gegen Putin.

Eine Aktion wie diese verschafft dem russischen Machtsystem neue Fehlerquellen. Das ist mein Antrieb. Ich betrachte die bevorstehende «Prozedur» nicht als echte «Wahl».

Aber ich bin sicher, dass eine solche Form der politischen Aktivität den russischen Staatsapparat beschäftigt. Gegenwärtig ist er zur Hälfte auf die Wahlen konzentriert, was ihn vom Krieg in der Ukraine ablenkt.

Es geht Ihnen bei dieser Wahl also gar nicht ums Gewinnen?

In einem autoritären System wie Russland will das Regime mit solchen «Wahlen» seine eigene Legitimität möglichst ohne Widerspruch bestätigen lassen. Jede Aktion, die diese Legitimität öffentlich untergraben kann, ist nützlich.

Vielleicht hat diese Sammelaktion auch den Nebeneffekt, dass in Ländern wie der Schweiz der lebendige Protest bemerkt wird.

Die öffentliche Meinung im Westen ist wichtig für uns. Sie bestimmt, wie mit Menschen umgegangen wird, die Russland aus politischen Gründen haben verlassen müssen.

Es gibt auch eine wachsende Tendenz in westlichen Ländern, dass der Krieg bagatellisiert oder relativiert wird. Diese Kräfte wollen möglichst bald zu einer Normalität zurückzukehren, zum Beispiel was die Arbeit westlicher Unternehmen in Russland betrifft.

Unterschriftensammlung
«Die Unterschriftensammlung in der Schweiz war nicht für Nadeschdin, sondern gegen Putin.» swissinfo.ch

Es ist ein offenes Geheimnis, dass viele Unternehmen, auch Schweizer Firmen sind dabei, von der Arbeit in Russland profitieren, sie sind die Nutzniesser des Krieges. Geschäfte mit Russland zu machen, sollte ein erhebliches Imagerisiko werden. Engagements wie unsere Unterschriftensammlung tragen dazu bei.

Fürchten Sie, dass Ihre Aktivitäten in der Schweiz negative Auswirkungen für Sie oder Ihre Verwandten in Russland haben könnten?

Alle, die sich engagieren, beantworten diese Frage für sich. Ich beziehe öffentlich Stellung, weil ich fast nichts zu verlieren habe. Als dieser Krieg begann, habe ich mich für die Interessen des Landes und gegen jene des Regimes entschieden.

Was ich seit Beginn des Kriegs in der Schweiz getan habe, wird in Russland als Landesverrat eingestuft. Das Sammeln von Unterschriften ändert daran nichts mehr.

Andere wollen anonym bleiben. Viele haben Verwandte in Russland, auf die der Staat Druck ausübt. Auch fast alle meine Verwandten unterstützen den Krieg. Ich habe meine Position zu Kriegsbeginn klargemacht und angeboten, dass sie zu ihrem eigenen Schutz den Kontakt zu mir abbrechen. Viele von ihnen taten das.

Wenn Sie die Unterschriften den russischen Behörden übergeben, erhalten diese ohne Aufwand ein Register von kritischen Personen.

Dieses Risiko haben wir allen deutlich gemacht. Aber auch in Russland stehen Menschen Schlange, um ihre Unterschrift abzugeben. Jene, die im Ausland leben, haben weniger zu befürchten.

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Unser Hauptziel war es, und das ist wichtig, Unterschriften von in der Schweiz lebenden Personen aus den Regionen zu sammeln, in denen politische Aktivitäten besonders riskant sind: Wir haben Unterschriften aus Tschetschenien, Dagestan und sogar Belgorod, einer Region, wo praktisch der Kriegsalltag herrscht.

Wie hat Ihr Leben in der Schweiz Ihre Sicht auf Russland verändert?

Ich fühle mich in der schweizerischen Gesellschaft viel wohler als in der russischen Gesellschaft der letzten 20 Jahre. Ich geniesse es, mich auch politisch zu engagieren.

Im letzten Herbst konnte ich, wie es Ausländerinnen und Ausländern im Kanton Neuenburg möglich ist, bei den Gemeindewahlen wählen. Es waren meine ersten echten Wahlen.

Als ich in Russland lebte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass eine solche Institution wie die direkte Demokratie in der modernen Welt überhaupt funktionieren könnte.

In der Schweiz wurde mir klar, dass eine gebildete Gesellschaft mit modernen liberalen Werten in der Lage ist, ein Land zu regieren, vor allem ein Land von so geringer Grösse. Russland könnte aber auch etwas von den Erfahrungen der Schweiz lernen, zum Beispiel in Bezug auf die Föderalisierung.

Sehen Sie eine demokratische Perspektive für Russland?

Ich glaube, ohne grundlegende Veränderungen und ohne den Wiederaufbau des Staats wird das Land nicht in die Weltgemeinschaft zurückkehren können. Es kann sehr langfristig eine demokratische Perspektive geben. Ein demokratisches Russland sollte meiner Meinung nach föderalistisch sein.

Unterschriftensammlung
Die meisten Unterschreibenden wollen anonym bleiben. swissinfo.ch

Momentan sollten wir im Westen diejenigen unterstützen, die das Land verlassen wollen. Die Abwanderung von Fachkräften ist ein Schlag für das Regime.

Wir sollten auch jenen helfen, die ihr Vermögen aus Russland herausbringen wollen. Sogar früheren Regimeunterstützenden, die keine Kriegsverbrechen begangen und die Verbindungen gekappt haben. Das sind die Menschen, die das Land wieder aufbauen werden.

Editiert von Benjamin von Wyl.

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