Erneute Moutier-Abstimmung soll Schlussakt im Jurakonflikt sein
Wechselt die Berner Gemeinde Moutier zum Kanton Jura? Darüber entscheiden am 28. März erneut die Stimmbürgerinnen und -bürger von Moutier. Bund und Kantone bereiten die Abstimmung bis ins kleinste Detail vor. Es ist die Wiederholung der Abstimmung von 2017, die der Kanton Bern für ungültig erklärt hatte.
Mitte der 1950er-Jahre, als die Jura-Frage in der Schweiz stärker in den gesellschaftlichen und politischen Fokus rückte, kritzelte der jüngst verstorbene Quebecer Lyriker Raymond Lévesque die ersten Strophen von «Quand les hommes vivront d’amour» – «Wenn die Menschen von der Liebe leben» – in die Mauern einer Gaststätte in Porrentruy.
Diese Hymne, welche als Reaktion auf den Unabhängigkeitskrieg in Algerien entstanden war, wurde durch Quebecer Sänger wie Gilles Vigneault und Céline Dion weltberühmt und zu einem Emblem der freien Provinz Quebec in Kanada.
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Die Geburt des 26. und letzten Schweizer Kantons
In der französischen Schweiz fanden die Verse bei den jurassischen Separatisten, die eine territoriale, politische und sprachliche Autonomie anstrebten, grossen Anklang. Die Loslösung vom deutschsprachigen und protestantischen Bern war für die französischsprachigen, meist katholischen Menschen keine Utopie mehr.
Seither hat sich vieles getan: 1979 wurde der Kanton Jura gegründet, einige Jahre später wurde für die Beilegung des Konflikts ein neutrales Gremium (interjurassische Versammlung) gebildet. Doch die Schweiz hat mit der Jura-Frage noch immer nicht abgeschlossen.
Der Epilog ist nun für den 28. März vorgesehen. An jenem Sonntag sind die stimmberechtigten Einwohner von Moutier dazu aufgerufen, zum zweiten Mal innerhalb von vier Jahren über die Frage der Kantonszugehörigkeit ihrer Gemeinde zu entscheiden. Wird das 7200-Seelen-Städtchen zum Kanton Jura wechseln oder aber in Bern verbleiben?
Bei der ersten Abstimmung am 18. Juni 2017, die aufgrund von Unregelmässigkeiten (Verdacht auf Wahltourismus) durch das bernische Verwaltungsgericht für ungültig erklärt wurde, hatte der Kanton Jura mit 51,7 % der Stimmen mit einer minimalen Differenz (137 Stimmen) das Rennen gemacht. Der Unterschied könnte bei der Wiederholung genauso gering ausfallen, da sich die Meinungen in den vier Jahren kaum geändert haben.
Schlagabtausch in den Medien
Da wegen Corona keine Wahlkampfauftritte stattfinden, nutzen beide Seiten die sozialen Netzwerke sowie die Leserbriefspalten in Regionalzeitungen (etwa im Quotidien jurassien und dem Journal du Jura), um ihre Meinungen zu sagen und die Werbetrommel zu rühren. Viele Menschen sorgen sich um den Weiterbestand des Spitals in Moutier. Andere fürchten Steuererhöhungen oder begrüssen eine mögliche Steuersenkung.
Einige bringen das Thema Sprache ins Spiel: Obwohl zweisprachig, würde der Kanton Bern seine französischsprachige Bevölkerung noch immer vernachlässigen, finden viele. «Der deutschsprachige Berner Jura? Das ist ein Mythos, den sie seit 50 Jahren propagieren», sagte dazu der ehemalige Berner Grossrat Guillaume-Albert Houriet gegenüber Medien.
Die Pro-Bern-Fraktion wiederum verweist auf das fehlende geografische Kontinuum zwischen Moutier, eines in einem Talkessel gelegenen Städtchens, und dem Jura. Moutier würde so zu einer «Enklave auf Berner Boden» werden, sagen sie voraus.
Solidarität für Moutier
In den Freibergen, wo der Kampf um die jurassische Unabhängigkeit in den 70er-Jahren besonders stark tobte, laufen viele, vor allem junge Menschen mit T-Shirts herum, auf denen «Tous avec Moutier» steht. Die Aktion wurde von Unternehmern ins Leben gerufen.
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Auch die französische Chansonsängerin Nicoletta posierte damit und betonte, wie sehr sie es genoss, zur Erholung in den Jura zu reisen. Und in Delémont wurde die Bevölkerung in diesem Herbst eingeladen, «in Solidarität mit Moutier» Jura-Flaggen an ihren Fenstern zu entrollen. Insgesamt, so scheint es, ist der Eifer auf Pro-Jura-Seite grösser als bei den Pro-Bernern.
Auf jeden Fall soll dieses Mal alles rund laufen. Nachdem das Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) die erste Wahl in Moutier vorschnell als die sicherste in der Schweizer Geschichte bezeichnet hatte, soll nun ein erneutes Debakel vermieden werden.
Die Kontrolle der Wählerverzeichnisse durch die Berner Staatskanzlei und die Kanzlei von Moutier sei intensiviert worden, erklärte das EJPD.
In Delémont, dem Sitz der jurassischen Regierung, hofft man ebenfalls aufs Beste und plant bereits den Entwurf eines Konkordats mit rund 15 Artikeln. In dieser Vereinbarung zwischen den beiden Kantonen sollen die Modalitäten für die Übergabe von Moutier festgelegt werden. Dieser Text muss noch von den Parlamenten und den Bürgern der beiden Kantone angenommen werden.
Als Vorbereitung auf die Abstimmung wurde auch ein Fragebogen an mehrere hundert Personen verschickt, um deren politischen Wohnsitz zu klären. Bei Unklarheiten ist eine Mediation durch das Bundesamt für Justiz vorgesehen.
Zudem wurde im Vorfeld eine Charta verabschiedet, eine Art Verhaltenskodex, der Ausrutscher während des Wahlkampfes vermeiden und den Willen beider Parteien bekräftigen soll, die Abstimmung friedlich abzuhalten. Eine Dreierkonferenz (Bund, Kantone Bern und Jura) begleitet den gesamten Prozess.
Wer bietet mehr?
Doch im Januar gingen die Emotionen noch einmal hoch, als der Kanton Bern den Medien mitteilte, dass in Moutier rund ein Fünftel aller Arbeitsplätze mit den Aktivitäten des Kantons verbunden seien. Dadurch flammte der Bieterkrieg um die Anzahl der Beamten, die jede Regierung Moutier garantieren will, erneut auf.
Zur Überwachung der Abstimmung am 28. März werden in Moutier «sechs eidgenössische Beobachter» anwesend sein, die gleiche Anzahl wie bei der ersten Abstimmung, bestätigte Jean-Christophe Geiser, Verantwortlicher für das Juradossier beim Bundesamt für Justiz.
«Zusätzlich zu diesen Beobachtern werden aber zehn Mitarbeiter speziell für die Kontrolle der Ausweise zuständig sein.» Das EJPD hat zudem die betroffenen Kantone gebeten, ihre Kommunikation am 28. März zu koordinieren, um Missverständnisse zu vermeiden.
Doch was geschieht nach dem 28. März? Für Jean-Rémy Chalverat, der in den 80er-Jahren erster autonomistischer Stadtpräsident von Moutier war, «wird im Fall einer Niederlage die Empörung bei den Autonomisten gross sein, weil man ihnen den Sieg von 2017 unter sinnlosen Vorwänden gestohlen hat.»
Andere rechnen damit, dass ein «Ja»-Votum die Pro-Jurassier beflügeln wird, andere Gebiete im Süden zu «erobern» – «vom Bielersee bis vor die Tore Frankreichs» heisst es in der Rauracienne, der Hymne der jurassischen Autonomisten.
(Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer)
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