Bern – Brüssel: Es riecht nach Zwischenlösung
Der neue Schweizer Nationalrat will gute Beziehungen mit der EU, aber einen besseren Rahmenvertrag. Auch die neue Regierung in Brüssel will gute Beziehungen mit der Schweiz, aber erstmal abwarten, was die Eidgenossen im Mai zur Personenfreizügigkeit sagen. Deblockiert ist vorerst nichts, aber auch noch nichts verloren. Eine Analyse.
Nach der kleinen Parlamentskammer sagte am Dienstag auch die neue grosse Kammer (Nationalrat) Ja zu einem zweiten Schweizer BeitragExterner Link von 1,3 Milliarden Franken an EU-Staaten in Süd- und Osteuropa. Die Auszahlung wird an die Bedingung geknüpft, dass die EU keine diskriminierenden Massnahmen gegenüber der Schweiz ergreift. Gemeint ist damit, dass die EU der Schweizer Börse den Zugang zu den europäischen Finanzmärkten verweigert.
Mit dem sogenannten Kohäsionsbeitrag sollen in diesen Ländern wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten ausgeglichen werden und Massnahmen im Bereich Migration mitfinanziert werden.
Das ist nicht nur ein Akt der Solidarität der Eidgenossen mit weniger entwickelten Ländern, sondern entspricht auch einer Forderung der EU, weil auch die Schweiz als Nicht-Mitglied dank diesen jungen EU-Mitgliedern vom erweiterten Binnenmarkt profitiert.
Ein bisschen weniger fordernd
Das alte Parlament hatte in den letzten Debatten beschlossen, der Schweizer Regierung den Auftrag zu erteilen, mit Zusatzverhandlungen mit Brüssel Verbesserungen beim Lohnschutz, bei den staatlichen Beihilfen und in Sachen Unionsbürgerrichtlinien zu erzielen.
Eine Motion, die verlangt, dass die Schweiz auch noch zu weiteren Punkten Zusatzverhandlungen führen soll, hat das neue Parlament nun abgelehnt.
Wie geht es weiter?
Die Beschlüsse in Bern zeigen, dass die Schweiz die seit Monaten blockierten Verhandlungen mit der EU nicht scheitern lassen will. Sie zeigen aber auch, dass der seit Ende 2018 vorliegende Verhandlungsentwurf für die Schweiz noch nicht ausgewogen ist. Zumindest in drei-vier Punkten sind Nachbesserungen für die Schweiz zentral, nämlich in Bezug auf die Unklarheiten in den erwähnten Bereichen Lohnschutz, Unionsbürger-Richtlinien, staatliche Beihilfen.
Bisher hatte die EU kein Musikgehör für Nachverhandlungen, und das wird sich zumindest offiziell vorerst auch nicht ändern. Solange sie mit Grossbritannien beim Brexit keine Lösung findet, wird sie der Schweiz keine Zugeständnisse machen, die präjudiziellen Charakter haben könnten.
Institutionelles AbkommenExterner Link
Als Nicht-Mitglied hat die Schweiz ihre Beziehungen zur EU bisher in rund 120 bilateralen Abkommen geregelt. Weil dies für die EU zu aufwändig wurde, verlangt sie seit Jahren eine Klärung der institutionellen Fragen, um den gegenseitigen Marktzugang zukunftsfähig zu machen.
Haben Zusatzverhandlungen eine Chance?
Beim Brexit hat sich gezeigt, dass die EU mit sich reden lässt, wenn der Verhandlungspartner – wie es der britische Premierminister Boris Johnson machte – mit einem für beide Seiten sinnvollen Vorschlag daherkommt.
Was ist ein sinnvoller Vorschlag?
In den Nachverhandlungen könnte die Schweiz der EU vor Augen führen, dass es nur drei Optionen gibt:
A: Die Schweiz sagt Ja zum vorliegenden Entwurf, mit dem grossen Risiko, dass dieser vom Schweizer Stimmvolk letztlich abgelehnt wird.
B: Die Schweiz sagt kategorisch Nein zum Entwurf und lässt die Verhandlungen scheitern.
C: Die Schweiz und die EU suchen mit Nachverhandlungen zu den strittigen Punkten eine ausgewogene Lösung.
An den Optionen A und B dürfte auch die EU kein Interesse haben. Die gegenseitigen Beziehungen sind für sie zwar nicht so wichtig wie für die Schweiz, aber sie profitiert auch davon. Logisch: denn die bilateralen Abkommen sind ja im gegenseitigen Interesse ausgehandelt worden. Die EU kann der Schweiz heute mehr Güter und Dienstleistungen verkaufen als umgekehrt. Und es leben mehr EU-Bürger in der Schweiz als Schweizer Bürger in der EU. Und täglich kommen rund 315’000 Grenzgänger zur Arbeit in die Schweiz.
Muss die Schweiz alle EU-Forderungen schlucken?
Tatsache ist, dass nicht die Schweiz, sondern die EU Änderungen an den bestehenden Verträgen verlangt. Das ist zwar ihr gutes Recht, aber diese Änderungen sind eben in einigen Punkten nicht im Interesse des kleineren Verhandlungspartners. Und dieser muss nicht alles akzeptieren, was der mächtigere Partner verlangt, sondern kann in für ihn vitalen Fragen Ausnahmen verlangen. Das ist in den Abkommen sogar festgehalten.
Unsinnig wäre es aber auch, die eigene Bedeutung zu überschätzen und alle EU-Forderungen kategorisch abzulehnen.
Und wenn die EU der Schweiz weiterhin die kalte Schulter zeigt?
Dann sollte die Schweiz die bilateralen Abkommen nicht von sich aus scheitern lassen, sondern der EU ein Interimsabkommen vorschlagen, schrieb Michael Ambühl kürzlich in einem GastkommentarExterner Link in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ). Der ehemalige Top-Diplomat und heutige ETH-Professor für Verhandlungsführung und Konfliktmanagement war von 2001 bis 2004 Schweizer Chefunterhändler der Bilateralen II.
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Weshalb sollte sich die EU auf eine solche Zwischenlösung einlassen?
Weil beide Seiten ein Interesse daran haben dürften, dass die bestehenden Beziehungen nicht Schaden nehmen.
«Mit einem solchen Abkommen könnten negative Entwicklungen abgefedert und die Verhandlungen des InstA [Institutionelles Rahmenabkommen, N.d.R.] zu einem späteren Zeitpunkt wiederaufgenommen werden. Die Partnerinnen könnten darin vereinbaren, dass einerseits die Aufdatierung bestehender Verträge im gewohnten Rahmen weitergeführt wird und andererseits die Schweiz bis auf weiteres auf Forderungen nach neuen Marktzugangsabkommen verzichtet», schlägt Ambühl vor.
«Und als Zeichen des guten Willens könnte sich die Schweiz beim Kohäsionsbeitrag viel grosszügiger zeigen. Das käme sie immer noch günstiger zu stehen als ein nicht ausgewogenes Rahmenabkommen oder unvorhersehbare Nadelstiche der EU», schrieb der Ex-Diplomat in Anspielung darauf, dass die EU der Schweizer Börse den Zugang zu den europäischen Finanzmärkten verweigerte.
Dass 130 Millionen Franken pro Jahr (1,3 Mrd. verteilt auf zehn Jahre) im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt der Schweiz von fast 690 Milliarden nicht besonders grosszügig sind, zeigt ein Vergleich mit Norwegen. Das EWR-Mitglied zahlt rund drei Mal so viel.
Am Dienstag zeigte sich das Parlament nicht von der grosszügigeren Seite. Es knüpft die Zahlung des Beitrags sogar an die Bedingung, dass die EU die Schweiz nicht diskriminieren dürfe. Dies ist vor allem ein innenpolitisches Signal, das dem Stimmvolk zeigen soll, dass man die Interessen der hiesigen Bevölkerung nicht einfach zu gunsten des Rahmenabkommens opfern will.
Was wird das Stimmvolk sagen?
Alle Verhandlungsbemühungen wären wohl umsonst, wenn das Stimmvolk bei der Abstimmung – voraussichtlich im Mai 2020 – die Initiative «Für eine massvolle Zuwanderung» (BegrenzungsinitiativeExterner Link) der SVP annimmt. Diese verlangt vom Bundesrat, das Personenfreizügigkeits-Abkommen mit der EU zu kündigen, um die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern in die Schweiz eigenständig zu regeln. Ein Volks-Ja dazu würde wohl den «Schwexit» aus den Bilateralen bedeuten.
Und wenn das Volk Nein sagt zu dieser Initiative, dann kann die Regierung ihren Dialog mit der EU gestärkt fortsetzen. Dabei muss aber verhindert werden, dass die Schweiz in Brüssel ein für sie unausgewogenes Abkommen unterzeichnet, das vor dem Souverän ebenfalls keine Chance hätte. In der jetzigen Form ist dieses womöglich zu wenig ausgewogen, als dass es diese Hürde nehmen könnte.
Pointierte Wortmeldungen
Weil für die neuen Parlamentsmitglieder laut ungeschriebenen Regeln in der ersten Session maximale Zurückhaltung geboten ist, waren auch in der Debatte zum Kohäsionsbeitrag ausschliesslich altbekannte Stimmen zu hören. Hier ist eine kleine Auswahl pointierter Äusserungen:
«Die Höhe des Schweizer Beitrags ist vergleichbar mit jenem von Malta.» Hans-Peter PortmannExterner Link, FDP.Die Liberalen
«Unser Land ist das älteste Friedensprojekt Europas. Aber die EU schikaniert unsere Unis, boykottiert unsere Börsen.» Roger KöppelExterner Link, Schweizerische Volkspartei
«Es geht um den Zusammenhalt Europas. Der Stärkere hilft dem Schwächeren. Das ist ein urschweizerisches Prinzip.» Sibel ArslanExterner Link, grüne Fraktion
«Wir zahlen nicht in einen EU-Topf, sondern für konkrete Projekte in den Ländern Südosteuropas. Wir werden keine Zahlung auslösen, solange wir von der EU diskriminiert werden.» Elisabeth Schneider-SchneiterExterner Link
«Mit einer Genehmigung der Rahmenkredite [Kohäsionsbeitrag, N.d.R.] vergeben Sie somit zum jetzigen Zeitpunkt nichts. Für den letzten Schritt läge der Ball wieder im Feld der Europäischen Union.» Aussenminister Ignazio CassisExterner Link an die Adresse des Parlaments.
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