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Roma-Asyltourismus ohne Chance

Roma: In ihrer Heimat diskriminiert oder gar bedroht, in der Schweiz ohne Chance auf Asyl. Keystone

Gegen Ende 2011 hatte die Anzahl Roma aus Serbien, die in der Schweiz um Asyl nachsuchen, einen neuen Höchststand erreicht. Dieser "Wintertourismus" spiegelt die verschlechterten Lebensbedingungen der Minderheit in Serbien, aber auch in Kosovo.

Bereits im Jahr 2009 hatten die Schweizer Behörden eine starke Zunahme der Asylgesuche von serbisch-stämmigen Roma registriert.

Damals war die Visa-Pflicht für Bewohner Mazedoniens, Montenegros und Serbiens für die Einreise ins Schengen-Gebiet aufgehoben worden.

Weil sie in der Heimat ausgegrenzt waren, wollten die Menschen ihr Glück in der Schweiz versuchen. Im Wissen, dass sie keine Aussicht auf politisches Asyl hatten, waren sie vor allem an einer Beschäftigung interessiert.

«Reiseagenturen boten gar Direktreisen an», sagt Michael Glauser, Sprecher beim Bundesamt für Migration (BFM).

«Die Menschen wussten, dass ihnen die Schweiz eine Rückkehrhilfe von 600 Franken bezahlt. Diese wurde dann auf 100 Franken reduziert, wovon die Menschen noch die Kosten für die Rückreise bestreiten mussten.» Dies habe einen Rückgang der Asylgesuche bewirkt, so Glauser.

2011 brachte nun wieder die Trendwende: Von den 22’551 eingereichten Asylgesuchen stammten 1217 von Serben, die meisten von ihnen Roma. Die Hälfte der Gesuche gingen allein im November und Dezember ein.

An der Wärme

Im BFM geht man davon aus, dass die Menschen, die oft in prekären Siedlungen leben, den Winter in der Schweiz verbringen wollten, weil sie wüssten, dass sie hier ein Dach über dem Kopf und Essen erhielten. Dies zumindest so lange, wie die Prüfung ihres Gesuchs dauert.

«Man kann diese Hypothese nicht ausschliessen», sagt Glauser. Es ist bekannt, dass die Roma über die Asylgesetzgebungen in den verschiedenen europäischen Ländern gut informiert sind. Deshalb wissen sie auch, dass das Prüfungsverfahren in der Schweiz mit zwei bis drei Monaten länger dauert als etwa in Norwegen oder Holland.

Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) weist den Begriff des «Wintertourismus» nicht zurück. Seit 1999 würden viele Roma in Serbien und in Kosovo in grosser Armut leben. «Sie wissen, dass sie keine Chancen haben, aber sie kennen die Schwächen des Systems», sagt SFH-Generalsekretär Beat Meiner.

Werden diese Menschen nach Abschluss des Prüfungsverfahrens die Schweiz verlassen? «Ich weiss nicht, was im Frühling geschehen wird», sagt Michael Glauser von der Bundesbehörde.

Diskriminiert und stigmatisiert

Bei Amnesty International (AI) ist man skeptisch gegenüber der «Wintertourismus»-Theorie: «Vielleicht verlassen die Roma in der kalten Jahreszeit eher ihre Heimat. Aber ich gehe nicht davon aus, dass sie dies mit der Absicht tun, den Winter anderswo zu verbringen», sagt AI-Sprecherin Denise Graf.

Denn die Roma könnten genauso gut nach Deutschland oder in andere Länder reisen. «Dort sind die Rückführungen im Winter suspendiert, was in der Schweiz nicht der Fall ist.»

Die Menschenrechts-Organisation ist besonders darüber besorgt, dass sich die Lebensbedingungen für die Roma-Flüchtlinge in Serbien verschlechtert hätten. «Es ist ein wirtschaftliches Problem, verquickt mit der ethnischen Frage, denn 97% der Roma sind ohne Arbeit», illustriert Graf.

Ein neues Problem erwächst aus der Immobilien-Spekulation. «Die Roma werden zunehmend aus ihren Häusern vertrieben. In Belgrad werden ihre Häuser niedergerissen, um einem Immobilienprojekt des serbischen Staates Platz zu machen», so Graf weiter. Dabei würde den Vertriebenen weder eine Ersatzunterkunft noch Sozialhilfe gewährt.

Dazu kommen die zunehmenden Spannungen in Mitrovica. In der kosovarischen Stadt hat die serbische Minderheit bis heute die Unabhängigkeitserklärung der albanischen Mehrheit von 2008 nicht anerkannt.

«Die Gewalt-Eskalation im letzten Sommer hatte einen direkten Einfluss auf die Lage der zahlreichen Roma in Mitrovica», sagt Denise Graf. Sie fürchtet aber zunehmend auch um die Lage der Roma in anderen Teilen des Kosovo, denn sie würden oft beschuldigt, während des Krieges mit den Serben kollaboriert zu haben.

Druck auf Serbien erzeugen

Auch in der Schweizer Bevölkerung geniessen die Roma keinen so guten Ruf. «Sie gelten wie überall als Rumtreiber und Diebe. Integrierte Roma ziehen es vor, nicht über ihre Herkunft zu sprechen», sagt Cristina Kruck, Gründerin der Rroma Foundation in Zürich.

In Lausanne und Genf löst die Polizei regelmässig illegale Lager unter Brücken oder in Parks auf. Bettelei und Prostitution haben zugenommen, so dass die Behörden vermehrt zum Eingreifen gezwungen sind, allerdings mit wechselndem Erfolg.

Denise Graf von Amnesty International fordert die Schweizer Behörden auf, «Druck auf Serbien und Kosovo zu machen, damit die Hilfsgelder der EU für die Integration tatsächlich die Roma erreichen».

Bei der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) ist man sich «einer latenten Gefahr der Zweckentfremdung» solcher Gelder bewusst. «Es gibt aber Instrumente, um dieses Risiko zu mindern, wie etwa unabhängige Anhörungen oder die Evaluation der Fortschritte eines Programms, an welche die Zahlungen gebunden sind», schreibt die Deza in einer Stellungnahme.

Die Zahl der Roma in Europa wird auf 5 bis 7 Mio. Menschen geschätzt.

In der serbischen Provinz Kosovo hatte ihr Bevölkerungsanteil vor dem Krieg knapp 17% betragen. Heute machen sie noch 2,7% aus.

Im Rahmen der Migrations-Partnerschaften mit Bosnien und Herzegowina, Kosovo und Serbien unterstützen das Bundesamt für Migration und die Deza bis 2015 mehrere Förderprogramme u.a. für Roma im Umfang von insgesamt 21 Mio. Fr.

 

In Serbien unterstützt die Deza bis Ende 2012 mit 2,5 Mio. Fr. ein Programm zur Verbesserung der sozialen Teilhabe von benachteiligten Menschen, namentlich von Roma. Verbesserte soziale Teilhabe ist ein Kriterium zur Erlangung des EU Kandidatenstatus.

2011 ermöglichte die Deza in Serbien die Einschulung von rund 5000 Roma-Kinder.

Aktiv ist die Bundesagentur unter anderem im Süden Serbiens, in der Vojvodina sowie in Kosovo.

(Quelle: Deza)

(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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