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Tariq Ramadan: der Sturz eines «neuen Propheten»

Tariq Ramadan
Tariq Ramadan bei einem Auftritt im Jahr 2007. Keystone

Er ist eine der zentralen Figuren des frankophonen Islams seit zwanzig Jahren. In Frankreich sieht er sich mit zwei Klagen wegen Vergewaltigung, Gewalttätigkeit und Belästigung konfrontiert. In der Schweiz wird er beschuldigt, als Lehrer mit drei minderjährigen Schülern sexuelle Beziehungen gehabt zu haben. Der Prediger weist die Vorwürfe zurück.

Die Ausführungen des Starredners werden jedes Jahr am Salon du Bourget in Seine-Saint-Denis bei Paris, der unter der Schirmherrschaft der Union islamischer Organisationen Frankreichs (heute Muslime Frankreichs genannt) steht, von einer grossen Menschenmenge verfolgt. Ob der Genfer über Spiritualität, über den Präsidenten der französischen Republik, den Krieg in Syrien oder seine eigenen Kinder spricht, ist nicht so wichtig. Tausende faszinierter Muslime applaudieren bei jedem Unterbruch. Für seine Getreuen, die ihn idealisieren, ist er nicht nur der brillante Professor für zeitgemässe Islamwissenschaften der Universität Oxford, der sich äussert, sondern ein Guru, ein neuer Prophet nach Mohammed.

Tariq Ramadans Facebook-Seite zieht mehr als zwei Millionen Fans an. Aber was sind die Geheimnisse dieses internationalen Stars, den die Schweiz nach Grossbritannien und nach Katar ziehen liess?

Er wurde 1962 als letztes von sechs Kindern von Saïd Ramadan (1995 gestorben) und Wafa, Tochter von Hassan Al-Banna, Gründer der ägyptischen Muslimbruderschaft, geboren.

Die vom damaligen ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser verfolgte Familie flüchtete 1958 nach Genf. Dort war Saïd Ramadan Vertreter der islamischen Weltliga in Europa, die von Saudi-Arabien finanziert wurde.

Said Ramadan
Saïd Ramadan und die Geheimdienste Der 1958 in die Schweiz geflüchtete Vater von Tariq Ramadan war seither ständiger Vertreter Jordaniens in der UNO. Nach seiner Demission 1965 verlor er seine Aufenthaltsgenehmigung. Die Schweizer Behörden beschlossen, ihn auszuschaffen. Aber dem Schwiegersohn von Hassan Al-Banna wird ein «geduldeter Aufenthalt» gewährt. Aus welchen Gründen? In einem Dokument des eidgenössischen Archivs, datiert vom 29. Juni 1967, steht, dass Saïd Ramadan «ein Informationsagent der Engländer und Amerikaner» sei. Er habe auch der BUPO [die damalige Bundespolizei zum Schutz des Staats] Dienste erwiesen. Im Klartext: Er versorgte mehrere westliche Geheimdienste mit Informationen über die Machenschaften der Muslimbruderschaft. (Text: Ian Hamel) swissinfo.ch

Sehr umstrittene Doktorarbeit

Die Art und Weise, wie Tariq Ramadan seine Dissertation verfasste – er widmete diese Hassan Al-Banna – wird für die Universität Genf in die Geschichte eingehen. Er versuchte, seinen Grossvater wie einen muslimischen Gandhi darzustellen, wofür er Übersetzungen aus dem Arabischen manipulierte. Den totalitären und antisemitischen Charakter der zweifelhaften Bruderschaft liess er ausser Acht. «‹Jundî› wird nicht mit ‹Soldat› übersetzt, wie es richtig wäre, sondern mit ‹Aktivist'», kritisiert Mohamed-Chérif Fajani (1), Hochschullehrer an der Universität Lyon. Charles Genequand, Experte für arabische Länder und anfänglich Doktorvater Tariq Ramadans, erinnert sich, dass sich der Doktorand damals nicht nur weigerte, Korrekturen vorzunehmen, sondern «die Mitglieder der Jury bedrängte», ihm den Doktortitel zu geben. Dem emeritierten Professor der Universität von Sorbonne, ebenfalls Mitglied der Jury, welche seine Doktorarbeit ablehnte, drohte Ramadan mit einer Klage…

Konfrontiert mit der Ablehnung seiner Doktorarbeit, beschuldigte Tariq Ramadan die Prüfenden eines Komplotts. Die Universität von Genf habe versucht, einen Muslim zu diskriminieren.

Bald darauf erhielt Ramadan aber Unterstützung vom damaligen Genfer Soziologieprofessor Jean Ziegler und dessen Gefährtin Erica Deuber Pauli. Die beiden setzten ein intensives Lobbying in Gang, um eine zweite Jury für die Beurteilung der Doktorarbeit zu finden, welche dieser wohlgesinnter war. Schliesslich wurde die Doktorarbeit «Aux sources du renouveau musulman. D’Al-Afghani à Hassan Al-Banna, un siècle de réformisme islamique» [An der Quelle des muslimischen Frühlings. Von Al-Afghani bis Hassan Al-Banna, ein Jahrhundert des islamischen Reformismus] ganz knapp angenommen. Der Autor erhielt nicht einmal die Erwähnung «sehr ehrenhaft». In der universitären Sprache bedeutete dies, dass die Türen der Fakultäten in der Schweiz für Tariq Ramadan geschlossen blieben.

Ein von Katar bezahlter Lehrstuhl

Aber dank des Doktortitels kann er die kleine Welt der (Moral-) Prediger zugunsten einer prestigeträchtigeren verlassen, jener der Intellektuellen. Seinem an der Schweizer Universität entrissenen Titel fügt der Sohn von Saïd Ramadan ein Diplom der Universität von Al-Azhar in Kairo hinzu. Auf seiner Website versichert der Islamwissenschaftler «sieben ijazat in sieben verschiedenen Disziplinen erhalten zu haben». Ein ‹jizat ist eine Bewilligung, Islamwissenschaft zu unterrichten. In einem Interview, das am 7. Juni 2009 in der Westschweizer Sonntagszeitung «Le Matin Dimanche» veröffentlicht wird, wird er sogar als «docteur ès lettres» (arabische Islamwissenschaft) in Genf und Kairo vorgestellt.

2005 kündigt der Genfer an, dass er an der Universität Oxford zum Professor ernannt wurde. Er verlässt die Ufer des Genfersees und zieht an die Themse. Die Wahrheit ist ein wenig anders. Tatsächlich ist er dort lediglich als Gastdozent angestellt. Die französische Tageszeitung «Le Monde» schreibt am 27. August 2005, «dass er keine Lehrtätigkeit ausüben sollte» (3). Marc Roche, Korrespondent von «Le Monde» in London, bestätigt gegenüber swissinfo.ch, dass Tariq Ramadan nur «Senior Research Fellow» sei, also ein Forscher. «Er hat sich immer zu Unrecht mit dem Professorentitel geschmückt», sagt Roche.

Erst später erbt der Enkel von Hassan Al-Banna einen Lehrstuhl, der von Katar finanziert wird, als Folge eines Vertrags zwischen Oxford und der Universität Hamad Bien Khalifa in Doha. In einem Interview in der Zeitschrift «Libération» vom 27. April 2013 gibt Tariq Ramadan zu, dass sein Professorentitel mit dem finanziellen Zuschuss aus dem Emirat verbunden sei.

Zerschmettertes Bild

Trotzdem bleibt der Genfer weiterhin eine besondere Lehrkraft. Im Unterschied zu all seinen Kollegen kann er sich kaum auf universitäre Publikationen berufen, was ihn aber nicht daran hindert, sich selber während seinen Vorlesungen als «Gelehrten» zu bezeichnen. Charles Genequand, der als sein Doktorvater zurückgetreten war, spricht in der französischen Zeitschrift «Le Figaro» von einem «Ideologen, einem pseudo-intellektuellen (…). Einem eingebildeten Opportunisten, der versucht, sich als den spirituellen Chef des europäischen Islams» auszugeben.

Die gravierenden Beschuldigungen gegen den Schweizer Islamwissenschaftler (zwei Anzeigen wegen Vergewaltigung, Gewalttätigkeit, Belästigung) sind natürlich ganz anderer Natur. Tariq Ramadan bestreitet sie und auch die Klagen wegen sexuellem Missbrauch von Minderjährigen, die letzte Woche von der «Tribune de Genève» publik gemacht wurden. Ramadan hat darauf zahlreiche Klagen gegen die Beschwerdeführer erhoben. Jetzt werden die Richter entscheiden.

Aber selbst wenn die Verfahren am Ende eingestellt werden sollten, scheint das Bild dieses Mannes, der von einigen Anhängern wie ein neuer Prophet vergöttert wird, endgültig zerschmettert zu sein. Er selber sagte in seinen Vorlesungen wiederholt, dass «jede sexuelle Beziehung ausserhalb der Ehe eine schwerwiegende Sünde» sei.

*Ian Hamel ist Autor der Studie «La vérité sur Tariq Ramadan. Sa famille, ses réseaux, sa stratégie» (Die Wahrheit über Tariq Ramadan. Seine Familie, sein Netzwerk, seine Strategie), Favre, 2007.

(1)  «Le politique et le religieux dans le champ islamique», Fayard, 2005.

(2)  «La vérité sur Tariq Ramadan. Sa famille, ses réseaux, sa stratégie», Favre, 2007.   

(3) «L’intellectuel musulman Tariq Ramadan est invité par l’université d’Oxford», Le Monde du 27 août 2005.   

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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