Rüstungsindustrie appelliert an Bundesrat
Die Schweizer Rüstungsindustrie verzeichnet zurzeit Einbussen. Gleich lange Spiesse wie die europäische Konkurrenz: Dies fordern zwei Parlamentarier in Postulaten. Auch der Bundesrat stellt Unterschiede in der Bewilligungspraxis fest.
Mit der revidierten Kriegsmaterialverordnung vom Dezember 2008 habe die Schweiz ihr Exportkontrollregime im Alleingang massiv verschärft, schreiben der christlichdemokratische Ständerat Bruno Frick sowie die freisinnige Nationalrätin Sylvie Perrinjaquet in ihren beiden gleich lautenden Vorstössen.
Die einschneidenden Massnahmen hätten bereits negative Konsequenzen auf Ausfuhrbewilligungen gezeigt. Als Beispiele aufgeführt sind die drei Länder Pakistan, Saudiarabien und Ägypten.
Kritisiert wird insbesondere Artikel 5, Absatz 2, der Kriegsmaterialverordnung. Laut diesem werden Auslandsgeschäfte nicht bewilligt, wenn das Bestimmungsland in einen bewaffneten Konflikt verwickelt ist oder Menschenrechte systematisch und schwerwiegend verletzt werden.
Auch wenn ein hohes Risiko besteht, dass die auszuführenden Waffen gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt oder dass die auszuführenden Waffen an einen unerwünschten Endempfänger weitergegeben werden, werden demnach keine Ausfuhrbewilligungen vergeben.
«Signifikanter Wettbewerbsnachteil»
«Die Schweizer Industrie sieht sich mit einem signifikanten Wettbewerbsnachteil konfrontiert», argumentieren die beiden Postulanten. Sie fordern deshalb den Bundesrat auf zu prüfen, inwiefern sich die Schweizer Bewilligungspraxis von der internationalen Konkurrenz unterscheidet und wie «diese Benachteiligungen» beseitigt werden können.
Im ersten Halbjahr 2010 gingen die Waffenexporte in der Eidgenossenschaft im Vergleich zur Vorjahresperiode um rund 12% auf 292 Mio. Franken zurück.
2009 hatte die Schweiz noch für rund 728 Mio. Franken Kriegsmaterial exportiert, was einem neuen Höchststand (+ 0,8% gegenüber 2008) entspricht. Im Jahr 2008 beliefen sich die Exporte auf 722 Mio. Franken, ein Anstieg von 55% gegenüber 2007.
Bundesrat wird in Pflicht genommen
Die aktuellen Einbussen sind für den «Arbeitskreis Sicherheit und Wehrtechnik», der von Frick und Perrinjaquet präsidiert wird, eine Hiobsbotschaft.
Der Arbeitskreis ist angesichts der jüngsten Entwicklungen gefordert. Denn Ziel der Mitglieder ist es, «die Schweizer Politik dazu anzuhalten, im Bereich Wehrtechnik ausreichende industrielle Kapazität in der Schweiz zu erhalten», wie es auf der Website heisst. Sie sollen sich auch «für die gesetzgeberischen Rahmenbedingungen einsetzen, welche der Schweizer Wehrindustrie in staatlichem oder privatem Besitz die wirtschaftliche Existenz ermöglichen».
Der Arbeitskreis nimmt den Bundesrat in die Pflicht: Wegen des bundesrätlichen Exportstopps vom März 2009 für Ägypten, Saudiarabien und Pakistan würden Schweizer Unternehmen Aufträge auch im dreistelligen Millionenbereich an Konkurrenten aus dem Ausland verlieren, heisst es im Newsletter. Die Schweizer Wehrindustrie werde mit der neuen Kriegsmaterialverordnung bestraft, so Co-Präsident Frick. «Der Bundesrat muss jetzt handeln!»
Restriktive Ausfuhrpraxis?
Die Schweiz verfüge über eine restriktive Ausfuhrpraxis und sei als Depositärstaat den Genfer Konventionen verpflichtet, argumentierte Wirtschaftsministerin Doris Leuthard im Abstimmungskampf gegen die Volksinitiative für ein Verbot von Kriegsmaterialexporten. Man werde am «strengen Ausfuhrregime festhalten» und auch künftig jedes einzelne Exportgesuch genau prüfen, versprach sie nach dem Nein im letzten Herbst.
In der Antwort auf die beiden Vorstösse hat sich der Ton etwas geändert: Der Bundesrat bestätigt, dass es bei der Bewilligungspraxis Unterschiede gebe. Er sei deshalb bereit, die Anliegen der Postulanten zu prüfen und beantrage die Annahme der Vorstösse.
«Sicherheit und Selbstverteidigung»
Auf die Frage von swissinfo.ch, ob es zu verantworten sei, für Länder wie Pakistan eine Lockerung zu prüfen, sagt Frick: «Ich sage nicht, wir müssen nach Pakistan liefern. Ich verlange lediglich, dass der Bundesrat die Exportbestimmungen mit jenen der EU vergleicht und abklärt, inwiefern eventuelle Benachteiligungen gerechtfertigt sind.»
Im Newsletter des «Arbeitskreises Sicherheit und Wehrtechnik» heisst es indes: «Mittelfristig fordert der Arbeitskreis, auf die zwingenden Ausschlusskriterien zu verzichten.
Wird also eine Öffnung der Waffenexporte in Länder angestrebt, die in einen bewaffneten Konflikt verwickelt sind und Menschenrechte verletzen? Diese Frage quittiert Frick mit der Bemerkung, man wolle ihm damit etwas unterstellen: «Die Schweiz darf nur in Länder liefern, welche die Waffen zur Verteidigung benutzen und die Menschenrechte respektieren. Sie leistet mit den Exporten von Wehrtechnik einen Beitrag zur Sicherheit und Selbstverteidigung.»
Was als Menschenrechtsverletzung bezeichnet werde, sei auch eine Interpretationsfrage. Schliesslich werde sogar die Schweiz deswegen regelmässig vom Europäischen Gerichtshof in Strassburg gerügt. «Es kommt auf die Schwere und Häufigkeit der Menschenrechtsverletzung an.»
«Völlig verantwortungslos»
Für Tom Cassee von der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA)handelt es sich um eine heuchlerische Politik: «Jetzt, wo die Debatte um Kriegsmaterial-Exporte wieder etwas in den Hintergrund gerückt ist, will man der Rüstungsindustrie alles erlauben – auch den Export in Staaten, wo Menschenrechte verletzt werden.»
Dabei stehe die Schweiz im Vergleich mit Europa in Sachen Waffenexporte pro Kopf der Bevölkerung bereits an der Spitze, insbesondere in Bezug auf Pakistan.
Pakistan war im Jahr 2008 Hauptabnehmer. 2009 figurierte das Land infolge des vom Bundesrat beschlossenen Exportstopps noch an 30. Stelle. Im ersten Halbjahr 2010 ist Pakistan mit Munition- und Ersatzteillieferungen für Fliegerabwehrsysteme wieder auf Rang Acht vorgerückt – diese sind vom Exportverbot ausgeschlossen.
Für Cassee stehen die beiden Postulate und die Reaktion des Bundesrats im Kontrast zu Leuthards Aussagen. Sie bedeute eine Kehrtwende nach der Kriegsmaterialexport-Abstimmung.
Es sei «völlig verantwortungslos», eine Lockerung der Ausfuhrbewilligungen auch nur in Betracht zu ziehen. Er frage sich, was man überhaupt noch lockern wolle. Es würden ja bereits heute Waffen in Länder wie Pakistan geliefert, wo man nicht wisse, ob sie nicht plötzlich in die Hände der Taliban fallen. «Hauptsache Waffenlieferungen, egal, wer dadurch stirbt.»
«Noch alles offen»
Dem widerspricht Simon Plüss, Leiter Exportkontrollen Kriegsmaterial beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco): «Kriegsmaterialausfuhren gegenüber Pakistan wurden immer nur sehr zurückhaltend bewilligt.» So würden keine Maschinengewehre, sondern Munition und Ersatzteile für Fliegerabwehrgeschütze geliefert.
Für ihn ist es verfrüht, irgendwelche Schlüsse aus der Antwort des Bundesrats zu ziehen. Die beiden Postulate kämen nun zuerst mal vors Parlament. Zwei Jahre nach der Revision der Kriegsmaterialverordnung sei indes ein guter Zeitpunkt, um eine vertiefte Analyse der Bewilligungspraxis vorzunehmen, so Plüss. Im Moment sei jedoch alles noch völlig offen.
Die Schweiz hat im ersten Halbjahr 2010 weniger Waffen ins Ausland verkauft als in den ersten sechs Monaten 2009. Wie aus Statistik der Eidgenössischen Zollverwaltung hervorgeht, ging der Waffenexport um knapp 12% auf noch 292 Mio. Franken zurück.
Hauptabnehmer für Schweizer Rüstungsgüter war im ersten Halbjahr 2010 Deutschland, das Waffen und Waffenkomponenten im Wert von 67,2 Mio. Franken einkaufte. Auf den Rängen zwei und drei der Abnehmerländer lagen Saudi-Arabien und Grossbritannien mit 31,8 respektive 29,3 Mio. Franken.
Dahinter folgen die USA mit einem Einkaufs-Volumen von 14,6 Mio. Franken sowie Pakistan, das zu Jahresbeginn für über 13 Mio. Franken Munition für Fliegerabwehrgeschütze einkaufte.
In den letzten 25 Jahren bewegte sich das Exportvolumen für Kriegsmaterial aus der Schweiz zwischen 141 und rund 720 Mio. Franken pro Jahr. In den letzten beiden Jahren wurden die Höchststände von 722 respektive 727 Mio. Franken erreicht.
Gemessen am Gesamtexportvolumen der Schweiz sind die Waffenausfuhren bescheiden. Letztes Jahr waren gerade mal 0,39% aller ausgeführten Güter Kriegsmaterial.
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