«Zwischen Russland und Europa liegen Welten»
Olga Romanowa leitet eine NGO, die Missstände in Russland aufdeckt. Im Zentrum ihrer Arbeit steht das desolate russische Justizsystem und der Kampf für die Rechte von Gefangenen.
Schweizer Bürgerinnen und Bürger können viel Einfluss auf die Politik ihres Landes nehmen – ganz anders in Russland. Dort sind die Möglichkeiten der Bevölkerung, sich an der Regierungstätigkeit zu beteiligen, sehr begrenzt. Deshalb gründen russische Aktivisteninnen und Politiker oft Stiftungen und gemeinnützige Organisationen, um die Dinge zu verändern – oder es zumindest zu versuchen.
Ein wichtiges Thema ist der Strafvollzug. Die prominenteste NGO in diesem Bereich ist Rus Sidjaschtschaja («Russland hinter Gittern»), die von der russischen Aktivistin und Publizistin Olga Romanowa geleitet wird. Doch der Druck Moskaus auf die Oppositionellen ist gross. Deshalb musste Romanowa das Land verlassen. Heute lebt die Regierungskritikerin im Exil in Berlin und deckt aus der Ferne Missstände in ihrem Heimatland auf.
Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht das desolate Justizsystem und der Kampf für die Rechte von Inhaftierten. Die Nichtregierungsorganisation hilft Verurteilten und ihren Familien während des Gerichtsverfahrens, der Haft und bei der Rückkehr ins normale Leben. Wir sprachen mit Romanowa über russische Gefängnisse, ihre Arbeit und was die Schweiz bewirken kann.
swissinfo.ch: Frau Romanowa, welche Gefühle wecken Schlagzeilen aus Russland bei Ihnen?
Olga Romanowa: Als ich zum ersten Mal von der Giftattacke auf Nawalny hörte, stieg Angst in mir hoch, echte Angst. Es fühlte sich an, als ob Moskau uns allen mitteilen wollte: «Ja, es kann jeden und jede von euch treffen.»
Was kann die Schweiz tun? Wie sollte sie auf Situationen wie den Fall Nawalny reagieren?
Für Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen in Russland ist jede Reaktion wichtig. Wir müssen Signale sehen, die zeigen, dass wir gehört werden. Ein Bericht in Schweizer Zeitungen? Ausgezeichnet! Ein Forum, ein Workshop oder ein Festival mit der Teilnahme von russischen Oppositionellen, Aktivistinnen und Journalisten kann ebenfalls viel bewirken.
Schweizer Sanktionen gegen bestimmte Personen wären sicher auch gut. Oder die Untersuchung der Herkunft von Vermögenswerten russischer Beamter in der Schweiz. Es gibt viele Möglichkeiten. Wenn jemand aus der Schweiz, der russisch spricht oder lernt, einen Brief an einen politischen Gefangenen in Russland schreibt, wäre das auch hilfreich, denn ein Brief in einem Umschlag, der in der Schweiz frankiert wurde, könnte die Gefängnisleitung beeindrucken und womöglich verhindern, dass der Inhaftierte gefoltert wird.
Olga Romanowa (geb. 1966) ist eine russische Journalistin, politische Aktivistin und Autorin. Sie ist Gründerin der Nichtregierungsorganisation Rus Sidjaschtschaja (deutsch: Russland hinter Gittern), die sich für die Rechte von Häftlingen und Oppositionellen einsetzt. 2017 floh sie vor staatlicher Verfolgung aus Russland nach Berlin, wo sie seither lebt.
2008 wurde ihr damaliger Ehemann, der mittelständische Unternehmer Alexej Koslow, verhaftet. Während des Verfahrens blieb Koslow drei Jahre in einer sibirischen Strafkolonie inhaftiert. In dieser Zeit wurde die Organisation Rus Sidjaschtschaja gegründet. Als die Büros der Organisation im Juni 2017 durchsucht wurden, verliess Romanowa Russland. Der Vorwurf lautete: Rus Sidjaschtschaja habe staatliche Mittel veruntreut – dabei hat die Organisation nie Geld vom russischen Staat bekommen.
Wie unterscheidet sich allgemein die Menschenrechtslage in Russland von jener in Europa?
Dazwischen liegen natürlich Welten. Junge Menschenrechtsaktivisten und Menschenrechtsaktivistinnen in Russland wollen vor allem die Folter bekämpfen. Sie müssen erklären und beweisen, dass Folter schlecht ist und verboten werden muss. Immer wieder.
In Russland existiert ein Gesetz, das physische Gewalt und etwa den Einsatz von Tasern im Falle eines Angriffs erlaubt, und Polizeibeamte können ja immer behaupten, dass sie angegriffen worden sind. Die Öffentlichkeit ist daran gewöhnt zu glauben, dass «es ohne Feuer keinen Rauch gibt».
Es gibt also Unterschiede sowohl bei den Gesetzen als auch in der Anwendung der Gesetze?
Warum ist das russische Justizsystem so unglaublich korrupt? Weil die russische Elite glaubt, dass sie ausserhalb des Systems lebt, und das System dazu da ist, Freunde zu begünstigen und Feinde zu verfolgen. In Europa ist das anders. Zum Beispiel haben die Menschen, die hier im Strafvollzug arbeiten, eine andere Einstellung. Ich fragte einmal einen Gefängnismitarbeiter in Deutschland, ob er auch Gefangene anschnauzt und anbrüllt. Er antwortete: «Nein, nie.»
Warum, fragte ich zurück. «Wenn ich schreien würde, würden sie das sicher nicht mögen. Sie würden ablehnend reagieren und sich wahrscheinlich unvernünftig verhalten. Und das würde zu immer mehr Unzufriedenheit, Beschwerden und Inspektionen führen. Das brauche ich nicht.» Das sagte er mir. Zum Thema Folter fragte ich ihn also gar nicht erst.
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Wo gibt’s sonst Unterschiede beim Strafvollzug?
In Europa konzentriert man sich darauf, ehemalige Häftlinge zurück in die Gesellschaft zu integrieren, ihnen einen Job zu geben und zu verhindern, dass sie zu Ausgestossenen werden. In Russland ist dieses Verfahren schlecht organisiert und die Inhaftierung ist für die meisten eine lebenslange Bestrafung. Eine Person wird aus dem normalen Leben verbannt und stigmatisiert, meist zusammen mit der gesamten Familie.
Warum hat Russland ein so grosses Problem mit den Menschenrechten?
Ein Hauptproblem ist, dass sich viele Menschen ihrer Rechte gar nicht bewusst sind. In einem Fall nahmen die Behörden ein 14-jähriges Mädchen von zuhause weg und sperrten es in eine psychiatrische Klinik – mit dem Wissen und der Einwilligung der Eltern. Diese kannten die Gesetze nicht.
Der Beamte sagte zur Mutter: «Ihre Tochter ist nicht normal», und überreichte ihr ein Dokument zum Unterschreiben. Die Mutter unterzeichnete es. Das Mädchen wurde zwar rechtzeitig gefunden und rausgeholt, aber das Verfahren war sehr kompliziert, weil die Eltern formal nichts gegen die Einweisung unternahmen.
Laut David Mühlemann, Leiter Fachstelle Freiheitsentzug bei humanrights.ch, leiden Gefangene in Schweizer Hafteinrichtungen stärker unter der Covid-19-Pandemie, als der Rest der Bevölkerung. «Ihre ohnehin stark beschnittenen Freiheiten und Grundrechte werden zusätzlich eingeschränkt», sagt Mühlemann. Als Beispiele nennt er weniger Ausgänge, Streichung von Besuchen oder Besuche hinter der Trennscheibe sowie verlängerte Zelleneinschlusszeiten. «Ein Gefangener hat uns berichtet, dass ihm verweigert wurde, sein neugeborenes Kind in die Arme zu nehmen, wegen der Ansteckungsgefahr», erzählt der Menschenrechtsaktivist. Das Europäische Antifolterkomitee hat die Staaten im März und Juli zweimal aufgefordert, Alternativen zum Freiheitsentzug zu prüfen. Dieser Aufforderung sei die Schweiz nach Informationen von Mühlemanns Menschenrechts-Organisation nur bedingt nachgekommen. Von einzelnen Kantonen wisse man, dass eine grössere Anzahl Gefangener aus der Risikogruppe entlassen worden sei, berichtet Mühlemann.
Wie wird eigentlich die Arbeit ihrer NGO in Europa angesehen?
Wir erhalten Fördergelder von der EU, dank denen wir die Einhaltung der Menschenrechte in Gefängnissen überwachen können. Es gibt schon Hindernisse, die vor allem mit den Unterschieden zwischen der russischen und der europäischen Mentalität zu tun haben.
Nur ein Beispiel: Jedes Land hat eine Interpol-Quote, welche die Anzahl Personen begrenzt, welche zur Fahndung ausgeschrieben werden. Russlands Quote ist hoch: 160 Personen. Das sind doppelt so viele wie in China und den USA zusammen. Ausserdem sind 99 Prozent der Gesuchten Tschetschenen.
Warum ist das so?
Wir müssen den Europäern erklären, dass es häufig politisch Verfolgte sind – so geht unsere Regierung mit ihren Gegnern um. Doch es ist schwierig. Die Dokumente für die Auslieferung werden von den Beamten perfekt ausgestellt. So können wir kaum beweisen, dass die Papiere im Kern eigentlich falsch sind. Wenn ein Europäer sie überprüft, denkt er, dass die betreffende Person ein Terrorist oder Islamist ist, also auf jeden Fall ein Krimineller, der ausgeliefert werden muss. Das lief sehr lange so.
2019, nachdem Selimchan Changoschwili in Berlin ermordet worden war, fand aber ein Umdenken statt. Das Bundesverfassungsgericht prüfte die Dokumente und verkündete, dass Papiere aus Tschetschenien in Zukunft nicht mehr akzeptiert werden, weil dort gegen das Gesetz verstossen wird.
Woran arbeitet Ihre Organisation aktuell?
Jüngst haben wir eine Erhebung gemacht. Wir befragten Verurteilte und ihre Familien, um uns anhand ihrer Antworten ein vollständiges Bild von der Situation in einem bestimmten Gefängnis zu machen. Konkret wollten wir etwa wissen, wie gut das Heizsystem funktioniert, ob Anwälte Zugang zu den Gefangenen haben, ob es Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gibt und vieles mehr.
Wie lief die Erhebung?
Ich finde, wir haben einen guten Job gemacht. Und wir machten eine überraschende Erfahrung: Normalerweise sind die Personen, welche mit uns sprechen, Verurteilte und ihre Angehörigen, aber in diesem Fall wurden wir von Gefängnis- und Lagerbeamten kontaktiert. Sie machten ein Drittel aller Befragten aus.
Sie offenbarten uns viele Mängel: einige von ihnen wurden gezwungen, drei Wochen am Stück ohne freien Tag zu arbeiten oder wurden aufgefordert, Gefängnisräume in Krankenhäuser umzuwandeln, welche von keinem Arzt beaufsichtigt wurden. Die Behörden liessen sie in dieser Krise allein. Deshalb wandten sie sich an uns.
Wo steht Ihre Organisation heute?
Rus Sidjaschtschaja hat all die Jahre überlebt und sich stark entwickelt. Die Ausbildung der Pflichtverteidiger – ein grosses Langzeitprojekt der Organisation – verläuft gut, obwohl wir die Lehrgänge aktuell wegen der Pandemie online durchführen müssen. Doch aus der Ferne arbeiten ist nichts Neues für mich.
Weiter haben wir angegliederte Anwaltskanzleien gegründet, die viele andere Projekte finanzieren. Rus Sidjaschtschaja bleibt mein Lebensprojekt. Im Kern geht es uns darum, für die Wahrheit zu kämpfen.
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Welchen Einfluss hatte die Pandemie auf das Leben in den Gefängnissen?
Covid-19 war plötzlich da. Also wurde es auch zum grossen Thema für uns. Wir wollten wissen, wie viele Gefangene tatsächlich infiziert waren. In der Schweiz sowie in mehreren EU-Ländern war es so, dass die Haftanstalten während der ersten Welle keine neuen Gefangenen aufnahmen.
Verurteilte warteten zuhause im Lockdown, bis sie für die Verbüssung ihrer Zeit vorgeladen wurden. Die Gerichte versuchten, Gefängnisstrafen zu vermeiden und ersetzten sie oft sogar durch Geldstrafen. Die Pandemie verlangsamte auch Auslieferungen von Kriminellen.
Und wie ist die Situation in Russland?
Nach offiziellen Angaben vom April 2020 waren in russischen Gefängnissen 3 000 Angestellte und 2 000 Verurteilte mit Covid-19 infiziert. Das ist natürlich unmöglich. Die Behörden beschönigen die Daten. Wir wollen aber das wahre Ausmass des Problems verstehen, um Lösungen zu finden.
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