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Illegal angestellt in der Schweiz: Ein Schicksal, das Zehntausende teilen

Sans-Papiers arbeiten vor allem In Wirtschaftssektoren, die nicht ausgelagert werden können: In Privathaushalten, auf dem Bau, im Gastgewerbe und in der Landwirtschaft (Studie des Staatssekretariats für Migration SEM). Kai Reusser

Viele träumen davon in der Schweiz zu leben und zu arbeiten. Aber wie ist es, illegal arbeiten zu müssen? Genau das ist die Realität für Zehntausende von Menschen.

Rita (51) verdient 500 Franken für fünf Arbeitstage. «Das ist gutes Geld. Ich betreue den ganzen Tag eine betagte Frau, reinige die Wohnung und koche für sie, ihren Sohn und dessen Gattin». Bevor sie im vergangenen September in die Schweiz reiste, hatte sie in ihrer Heimat Guatemala während zwei Jahren erfolglos eine Stelle als Sekretärin gesucht.

«Ich betreue den ganzen Tag eine betagte Frau, putze die Wohnung und koche.» Rita (51)

Ihre Tochter Laura (29) hat die Stelle für Rita gefunden. «Ein mir bekannter Lehrer suchte jemanden, um seine fast 90-jährige Mutter zu betreuen. Ich schlug ihm meine Mutter vor, doch das Risiko ist gross. Ich befürchte, dass das Arbeitsverhältnis nicht lange dauern wird», meint die Ladenverkäuferin in einem Dorf des Kantons Bern, die dank Heirat eine Aufenthaltsbewilligung (B-Ausweis) hat.

Ist es dem Lehrer egal, dass er ihre Mutter illegal anstellt? «Er sagt, es sei eine Art, seiner Familie und uns zu helfen, doch wir müssten diskret sein. Obwohl es Personen zur Betreuung Betagter braucht, erteilt die Schweizer Regierung nicht die entsprechenden Arbeitsbewilligungen». Auf die Frage, ob swissinfo.ch mit ihm sprechen könnte, antwortete Laura verängstigt: «Nein, um Himmels Willen nicht.»

Rita ist ein Beispiel für die laut Schätzungen des Staatssekretariats für Migration (SEM) 76´000 ausländischen Sans-Papiers (Studie: Die Sans-Papiers in der Schweiz 2015Externer Link). Die Autoren der Studie räumen ein, dass dies eine grobe Schätzung ist: «Die Zahl der Sans-Papiers kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden und liegt wahrscheinlich zwischen 50´000 – 99´000».

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Nur 18% sind abgewiesene Asylsuchende

Laut dieser ersten grossen Untersuchung über Sans-Papiers seit 2005 sind nur 18% abgewiesene Asylgesuchsteller. «Die Mehrzahl hatte mit dem Asylwesen gar nie Kontakt. Ihr Ziel ist es, in die Schweiz zu kommen oder im Land zu bleiben, um die Nachfrage nach Sans-Papiers auf dem helvetischen Arbeitsmarkt zu befriedigen», erklärt der Sprecher des SEM, Martin Reichlin.

Die Untersuchung bestätigt dies: Neun von zehn volljährigen Sans-Papiers gehen einer oder mehreren bezahlten Beschäftigungen nach, d.h. rund 60´000 Frauen und Männer arbeiten schwarz, die Hälfte davon in Schweizer Privathaushalten.

«Es sind Wirtschaftsflüchtlinge und sie haben keinen Ausweis, ganz einfach weil die Schweiz – abgesehen von Ausnahmen für speziell qualifizierte Personen – Arbeitseinwanderung nur aus EU- und EFTA-Mitgliedstaaten bewilligt», erklärt Francisco Merlo. Der Experte für Migration arbeitet im Beratungszentrum für Migranten La FraternitéExterner Link in Lausanne, das an der Untersuchung des SEM beteiligt war.

Nach der Scheidung in die Schattenwirtschaft

63% der Sans-Papiers kamen ohne gültige Reisedokumente oder als Touristen über die Grenze.

„Meine Rendezvous mache ich übers Mobiltelefon ab. So muss ich mich nicht exponieren.“ Ana (30)

Weitere 19% hatten eine Aufenthaltsbewilligung, die jedoch abgelaufen ist. Gemäss der Untersuchung sind es «gesellschaftlich und beruflich besser integrierte Personen, die gerade deshalb weniger auffallen».

Dies ist bei Ana (30) aus Brasilien der Fall. Sie lebt mit «Angehörigen» in Zürich und ist nicht freiwillig in die Anonymität gegangen. «Mein Schweizer Ex-Mann verlangte vor vier Jahren die Scheidung, noch bevor ich die Niederlassungsbewilligung beantragen konnte».

Sie blieb im Versteckten: «Ich putze Wohnungen und bin Gesellschaftsdame.» Ana prostituiert sich. «Alle meine Rendezvous mache ich über das Handy ab. So exponiere ich mich nicht. Ich habe feste Kunden. Damit und als Putzfrau kann ich meinen Sohn und meine Mutter in Brasilien unterstützen.»

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Ecuadorianer, Brasilianer und Kosovaren

Laut der Untersuchung des SEM stammen 43% der Sans-Papiers aus Lateinamerika.

«Sie kommen vor allem aus Ecuador, Bolivien und Brasilien und haben sich Arbeitsnischen mit Reinigungsarbeiten und der Betreuung von Kindern und Betagten in Privathaushalten geschaffen», erläutert Merlo. Als Berater kennt er die Geschichten illegaler Einwanderung aus nächster Nähe.

An zweiter Stelle stehen illegale Einwanderer aus europäischen Ländern ausserhalb des EU- und EFTA-Raums (24%). Viele davon stammen aus Ex-Jugoslawien. Nachdem Bern die Einwanderung ausländischer Arbeiter auf EU- und EFTA-Staaten beschränkt hat und 2002 den Saisonnierstatus aufgehoben hatte, blieb Menschen aus Mazedonien und dem Kosovo ohne unbeschränkten Arbeitsvertrag als einzige Alternative die Schwarzarbeit. 

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Schwarzarbeiter auch aus EU-Staaten

„Wir verlagern alles, was nur möglich ist, ins Ausland, um die Kosten zu drücken. Doch drei Wirtschaftssektoren können wir nicht auslagern: Das Bau- und Gastgewerbe und Beschäftigung in Privathaushalten.» Francisco Merlo

Die Untersuchung des SEM bezieht Sans-Papiers aus der EU nicht ein. Doch Merlo und andere Spezialisten weisen darauf hin, dass es trotz Personenfreizügigkeit viele davon gibt, meistens weil ein EU-Bürger seine Arbeit und damit die Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz verliert, aber das Land nicht verlässt. Oder weil ein Arbeiter seine Familie nachziehen lässt, ohne über den vom Gesetz vorgeschriebenen Wohnraum zu verfügen, womit deren Aufenthaltsbewilligung verweigert wird.

Merlo versichert, dass solche Fälle gegenwärtig häufig anzutreffen sind: «Arbeiter aus Portugal, Spanien oder Italien werden ihre Angehörigen nicht in die Heimat zurückschicken. Sie bleiben illegal in der Schweiz, bis eine genügend grosse Wohnung zur Verfügung steht und somit die Familienzusammenführung gesetzlich möglich ist».

Grenzen der Produktionsverlagerung ins Ausland

Seit der letzten Untersuchung von 2005 ist die Zahl der Sans-Papiers relativ stabil geblieben. Die Gründe dafür sind die kurzfristige Nachfrage nach flexiblen Arbeitskräften und der Kostendruck in wenig rentablen Wirtschaftssektoren.

Laut Merlo beweist dies den «Misserfolg einer restriktiven Einwanderungspolitik, solange in der Wirtschaft und der Gesellschaft eine stabile Nachfrage nach diesen billigen Arbeitskräften besteht“. Diese Nachfrage gründe darauf, dass die staatlichen Bemühungen zur Schaffung von Kinderkrippen und Optionen zur Pflege betagter Menschen erfolglos geblieben seien.

«Wir verlagern alles, was nur möglich ist, ins Ausland, um Kosten zu sparen. Doch drei Wirtschaftssektoren können nicht ausgelagert werden: Der Bausektor, das Gastgewerbe und die Arbeit in Privathaushalten. So tolerieren wir aus Zweckmässigkeit, dass diese Menschen zu uns ziehen und hier auf eigenes Risiko und ohne Rechte für uns arbeiten – eine kollektive Heuchelei.»

Sans-Papiers: 12% sind Minderjährige

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) ist für die Regulierung der Einreise-, Aufenthalts- und Arbeitsbewilligungen von Ausländern zuständig. Laut dem Bericht «Die Sans-Papiers in der Schweiz 2015» sind vom Total von 76´000 Sans-Papiers 12% Minderjährige.

19% der Sans-Papiers leben mehr als zehn Jahre schwarz in der Schweiz, 35% zwischen fünf und zehn Jahre, 25% weniger als fünf Jahre und 21% weniger als ein Jahr.

Nur zwei von 26 Kantonen zeigen zählbares Interesse, die Regularisierung der Sans-Papiers in Betracht zu ziehen: die Kantone Waadt und Genf mit 93% der Regularisierungen für 2014 im Rahmen des Ausländergesetzes, nämlich 275 von 294 Fällen.


Finden Sie es gut, den Aufenthalt in der Schweiz von langjährigen Sans-Papieres zu regularisieren? Ihre Meinung interessiert uns.

(Übertragen aus dem Spanischen: Regula Ochsenbein)

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