Schlacht von Marignano scheidet die Geister
"1515, Marignano": eine der bekanntesten Jahreszahlen in der Geschichte, sowohl in Frankreich wie auch in der Schweiz. Anlässlich der 500-Jahr-Feier der Schlacht südöstlich von Mailand plant die Stiftung Pro Marignano dieses Jahr mehrere Anlässe. Doch Kontroversen zur Gedenkfeier sind vorprogrammiert: Während die einen in der Niederlage der Schweiz den Ursprung der schweizerischen Neutralität sehen, sprechen andere von "politischer Vereinnahmung".
Der erfolgreiche französische Schriftsteller Max Gallo beschreibt in seiner kürzlich erschienenen Biographie über Franz I. wenig differenziert das Streitgespräch zwischen dem französischen König und den helvetischen «Söldnern», das der Schlacht vorausging.
«Die Schweizer ziehen sich zurück, rauben und plündern die Dörfer aus, die sie durchqueren. Franz I., das Schwert in der Hand, verbietet seinen Truppen, sich so zu benehmen wie die Schweizer. Keine Plünderungen.»
Die Schlacht von Marignano
In Marignano stehen sich am 13. und 14. September 1515 die Truppen des Königs von Frankreich, Franz I., und die Schweizer gegenüber, die das Herzogtum Mailand verteidigen. Der Herzog von Mailand, Massimiliano Sforza, dem die Eidgenossen Schutz zugesichert haben, ist zudem mit Papst Leo X. und Kaiser Maximilian I. verbündet.
Ein Teil der eidgenössischen Hauptleute (namentlich die Berner, Solothurner und Freiburger) waren zu Verhandlungen bereit und unterzeichneten am 8. September mit Franz I. den Vertragvon Gallarate, der Frieden und die Zahlung von einer Million Kronen an die Eidgenossen in Aussicht stellte. Diese Entscheidung wurde jedoch nicht von allen anerkannt, namentlich nicht von den Kantonen Uri, Schwyz und Glarus.
Am 13. September stürmte eine Schweizer Söldnertruppe Richtung Marignano. Ohne Erfolg. Am 14. September richtete die französische Artillerie in den Schlachthaufen (Geviert) der Eidgenossen, die wieder zum Sturm übergegangen waren, ein Blutbad an.
Nachdem die Eidgenossen zurückgewichen waren, starteten sie einen neuen Angriff, der siegreich hätte sein können, wenn nicht im Lauf des Morgens 12’000 Mann Verstärkung der Republik Venedig angekommen wären.
Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz
Max Gallo schreibt den Sieg einzig dem Verdienst von König Franz I. zu, während die meisten Historiker davon ausgehen, dass ohne das Eingreifen der Venezianer am zweiten Tag der Schlacht der Ausgang sehr ungewiss gewesen wäre.
Fast 500 Jahre später geht es dem Mythos Marignano bestens. Wer auch immer seine Thesen bestätigt haben will, findet in der schmucken Jahreszahl weiterhin genügend Gründe. Für Max Gallo ist die Schlacht der triumphale Ursprung des «Renaissance-Fürsten», des mutigen Königs, der auf dem Schlachtfeld vom Chevalier de Bayard, dem «Ritter ohne Furcht und Tadel», selbst zum Ritter geschlagen wurde.
Doch zehn Jahre später erlitt der König in Pavia eine Niederlage und wurde sogar von den Spaniern gefangen genommen. Am Ende musste Frankreich alle seine Ansprüche in Italien abtreten.
In der Schweiz gibt die Stiftung Pro MarignanoExterner Link einer etwas subtileren Interpretation den Vorrang, doch auch diese wird angefochten. Die blutige Niederlage vom 14. September 1515 sei nicht mehr und nicht weniger der Ursprung der Schweizer Neutralität.
Wallfahrtsort
Seit Jahrzehnten reist der Präsident der Stiftung Pro Marignano, Oberst Roland Haudenschild, an den Ort des Geschehens in der südöstlichen Vorstadt von Mailand. Der Anblick ist deprimierend, das Beinhaus von Santa Maria della Neve und die Stele des Bildhauers Josef Bisa, realisiert 1965, sind am Verfallen.
Danach nimmt er jeweils an einer kleinen Gedenkfeier der tragischen Schlacht teil, organisiert von der Stadt San Giuliano, unweit des heutigen Melegnano.
Erinnert wird an die Ankunft des jungen Königs Franz I. in Italien im August 1515 und an den Rückzug von tausenden Schweizer Infanteristen nach Mailand. Und an den sechzehnstündigen Kampf – für damalige Verhältnisse eine Ewigkeit – zwischen den französischen Truppen und den helvetischen Schlachthaufen (Geviert).
Die Bilanz gemäss dem Historischen Lexikon der SchweizExterner Link: 5000 bis 8000 Tote auf französischer Seite, 9000 bis 10’000 auf Schweizer Seite, das ist fast die Hälfte der angeworbenen Kontingente.
Gedenkfeier und Eidgenössisches Schiessen
An ein solches Massaker muss erinnert werden, meint die Stiftung. Ausgestattet mit einem Budget von 500’000 Schweizer Franken will sie das Beinhaus renovieren, ein historisches Schiessen organisieren und im Rahmen der Weltausstellung 2015 in Mailand eine Gedenkfeier veranstalten. Nicht zu vergessen die Veröffentlichung des Buches «Marignano 1515-2015. 500 Jahre Schweizer Neutralität».
Ewiger Frieden
Ein Jahr nach der Schlacht von Marignano unterzeichnen das Königreich Frankreich und die Eidgenossenschaft am 29. November 1516 einen Friedensvertrag in Freiburg (Schweiz). In Frankreich ist der Frieden von Freiburg besser bekannt unter dem Begriff «ewiger Frieden».
Die Schweiz erhält Kriegsentschädigungen und Handelserleichterung für die Schweizer Händler in Frankreich und die Anerkennung der Souveränität der Eidgenossenschaft über das Veltlin und den heutigen Kanton Tessin.
Die Eidgenossenschaft gibt den Anspruch auf das Protektorat von Mailand an Frankreich ab und sichert zu, nie mehr gegen das Königreich Frankreich zu kämpfen, weder direkt noch durch Söldner. Frankreich erhält zudem das Recht, in der Schweiz Söldner zu rekrutieren; eine Tradition, die bis 1830 aufrechterhalten wird.
Der Vertrag wird gebrochen, als die neue französische Republik 1798 in die Eidgenossenschaft einfällt.
Wurde in Marignano die Schweizer Neutralität begründet? Falsch und tendenziös, tönt es aus der Ecke von Autoren und Wissenschaftlern der Gruppe «Kunst+Politik»: «Es ist schockierend, dass dieses Gemetzel heute für politische Zwecke missbraucht wird», kritisiert die Gruppe auf ihrer Internetseite marignano.chExterner Link.
Der Schriftsteller Daniel de Roulet, Mitglied der Gruppe, brandmarkt in einem Artikel die Idee einer Gedenkfeier. Sie würde bloss versuchen, «die Vorteile unserer angeblichen Neutralität in der heutigen Welt darzustellen: Europahass, Bankensicherheit und Schutz der Urschweizer seit fünf Jahrhunderten.»
Unterstützung in den Kantonen
Die Stiftung Pro Marignano, die eine Polemik tunlichst vermeiden will, setzt sich aus zahlreichen Tessinern zusammen, überwiegend Offizieren und einigen Politikern, vor allem aus dem rechten Lager, aber auch Linke.
«Es geht nicht darum, ein Fest zu feiern, sondern unsere Toten zu ehren», verteidigt sich der Pressesprecher Livio Zanolari. «Und sich an einen wichtigen Wendepunkt zu erinnern: Nach Marignano beendete die Schweiz ihre Expansionspolitik, sie besann sich auf ihre Werte zurück, namentlich den Föderalismus. 1515 sprach niemand von Neutralität, doch die Veränderung in der Haltung ist offenkundig.»
Aus Bern gibt es keine finanzielle Unterstützung, doch in den Kantonen erhält die Stiftung viel Zuspruch. Die Kantone Genf, Wallis und Jura und natürlich die Kantone der Zentralschweiz hätten Unterstützung zugesagt, berichtet Zanolari.
Marschhalt
Ist Marignano wirklich ein Wendepunkt oder bloss ein Datum wie jedes andere? Nach Ansicht des Historikers Alain-Jacques Czouz-Tornare «ist 1515 trotz allem ein symbolischer Moment, ein Marschhalt sozusagen. Die Schweiz begreift, dass sie im Kreis der Grossen nicht mehr mitspielen kann. Der Expansionstraum – vor allem der Innerschweizer Kantone – ist zerschlagen. 1515 ist eine rettende Niederlage. Sie zwingt die Schweiz, sich in vertrautes Gelände zurückzuziehen: zwischen die Alpen und den Jura, zwischen Rhein und Rhone».
Lesestoff
Didier Le Fur, «Marignano». Editions Perrin.
Alain Corbin, «1515 et les grandes dates de l’histoire de France». Editions du Seuil.
Max Gallo, «François 1er». Editions XO.
Franck Ferrand, «François Ier roi de chimères». Editions Flammarion.
Marignano begründe jedoch nicht den Anfang der Neutralität, meint Czouz-Tornare, «sondern eher das Bekenntnis der Schweiz, sich neutral zu verhalten. Es sind die grossen Mächte, welche die Schweiz neutralisieren und ihr beibringen, wie sie sich mit den Nachbarn arrangieren muss».
Die Anzahl Schweizer, die sich von europäischen Armeen anwerben liessen, war nach der Schlacht und während des ganzen 16. Jahrhunderts höher als je zuvor.
Ein «Ablenkungsmanöver» für Franz I.
In einem 2004 erschienenen Buch, das bald als Taschenbuch neu veröffentlicht wird, wagt sich Didier Le Fur an eine heikle Aufgabe: Er will die Geschichte der Schlacht nachstellen und zwischen Legende und Geschichte unterscheiden.
Kein einfaches Unternehmen, zumal Zeitzeugen rar sind und die Berichte – einige Jahre nach der Schlacht auf französischer Seite niedergeschrieben von Pasquier Le Moine – das einzige Ziel hatten, den Mythos von König Franz I. zu errichten.
«Marignano ist ein wenig ein Ablenkungsmanöver für die Niederlagen von Franz I., dem es nicht gelang, seine italienischen Eroberungen zu halten», streicht Le Fur hervor. Seine Biographie über den König, die nächstes Jahr erscheinen soll, kratzt am schönen Bild des Monarchen, «dem Erbauer des modernen Frankreich» – was wohl Max Gallo kaum gefallen wird…
(Übertragen aus dem Französischen: Christine Fuhrer)
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