Schlag für Opposition, Schlag für ganz Russland
Die Ermordung des bekannten russischen Oppositionspolitikers Boris Nemzow hat in Russland, aber auch im Ausland, Trauer, Empörung, Entsetzen und Schock ausgelöst. Die Schweizer Presse thematisiert vor allem das Klima eines übersteigerten Nationalismus und den Medienkrieg gegen Andersdenkende.
«Wenn sich die Staatsmacht in den Händen einer einzelnen Person konzentriert und diese immerfort regiert, endet alles in einer Katastrophe», sagte Boris Nemzow am Freitagabend im Radiosender Echo Moskwy. Wenige Stunden später war er tot. Ein Unbekannter hatte den Oppositionspolitiker mit vier Schüssen von hinten niedergestreckt und war darauf in einem Auto geflüchtet. Das Verbrechen ereignete sich auf einer Brücke im Zentrum Moskaus, ganz in der Nähe des Kremls.
Nemzows Ausspruch am Radio umreisse dabei in aller Kürze sein Programm, schreibt die Neue Zürcher Zeitung: «Ein fast 25 Jahre währender Kampf für demokratische Reformen und scharfe Kritik am zunehmend autoritär und immer unberechenbarer agierenden Regime Präsident Putins.»
Die offizielle Schweiz hat «mit Bestürzung vom Mord an Boris Nemzow» Kenntnis genommen. Wie es in einer Mitteilung des Eidg. Departements für auswärtige Angelegenheiten EDA heisst, verurteile die Schweiz «die brutale Ermordung eines unermüdlichen Verteidigers der Demokratie und Kämpfers gegen die Korruption und spricht den Angehörigen seine aufrichtige Anteilnahme aus».Die russischen Behörden müssten «alles unternehmen, dass das Verbrechen aufgeklärt wird und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden», so das EDA.
«Dieser Tod, den der ’neue Zar› auf sehr stalinistische Art, als mögliche westliche, ukrainische oder islamistische Provokation angeprangert hat, ereignet sich zu einem schicksalhaften Moment für das Land. Man kann ihn als Zeichen der Straffreiheit und der Allmacht bezeichnen, die ein Mann geniesst, der die Macht, die Oligarchen, die Medien und die öffentliche Meinung kontrolliert», schreiben L’Express, L’Impartial und Journal du Jura in ihrem Kommentar.
«Tod im Schatten des Kremls»
Das Leben und der Tod von Boris Nemzow seien ein Gleichnis für die tragische Entwicklung, die Russland genommen habe, schreibt die NZZ. «Nemzow verkörperte einst die postsowjetische Aufbruchstimmung: Jungen Reformern wie ihm schien Anfang der 90er-Jahre die Zukunft zu gehören. Er war dabei mehr als nur ein liberaler Träumer, sondern schuf als Gouverneur von Nischni Nowgorod ein lokales Reformlabor. Doch als ihm 1997 der Sprung in die Moskauer Regierung gelang, waren die Weichen bereits in eine andere Richtung gestellt. Es regierte der Insider-Kapitalismus, und autoritäre Ideologien befanden sich im Aufwind.»
Unbequem, aber politisch chancenlos, habe Nemzow keine Gefahr für Putins Regime dargestellt. Doch sein gewaltsames Ende zeige, dass es selbst für eine zahnlose Opposition kaum noch Platz gebe in diesem Land. «Russland gleicht immer mehr einer gewöhnlichen Diktatur, in der es für Andersdenkende nur noch wenige Perspektiven gibt: Selbstverleugnung, Emigration, Haft oder Tod», kritisiert die NZZ.
Auch für den Berner Bund und den Zürcher Tages-Anzeiger ist klar, dass die Schuld am Tod Nemzows im Kreml zu suchen ist: «Zehntausende gingen auf die Strasse gegen Präsident Wladimir Putin, dem die meisten Demonstranten die Schuld an dessen Tod geben – wenn nicht direkt, dann zumindest indirekt. Der Medienkrieg gegen Andersdenkende teilt das Land strikt in Patrioten und Verräter. Nemzow stellte sich gegen die Annexion der Krim und gegen den Krieg in der Ukraine. Das machte ihn in dieser Lesart automatisch zu einem Feind des russischen Volkes.»
Regime der Einschüchterung
Gemäss der NZZ deutet alles auf ein «zynisches politisches Verbrechen» hin. Dabei könne der Kremlchef seine Hände nicht in Unschuld waschen. «Er hat ein Klima des übersteigerten Nationalismus geschürt, in dem überall Staatsfeinde vermutet werden. Die Bluttat ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Wer auch immer den Auftrag dazu gegeben hat – sie ist eine klare Botschaft an Russlands Opposition. Sollte diese gehofft haben, Putins Regime werde unter der Last der Wirtschaftskrise und der Sanktionen ins Wanken kommen, so ist der Mord ein gezielter Akt der Einschüchterung.»
Nicht anders analysiert Le Temps den Mord am Oppositionspolitiker: «Schon seit einiger Zeit wandelte sich Russland ideologisch, aber auch medienwirksam in eine unerbittliche Kriegsmaschine. Sie hat Schuldige definiert, Feinde und Sühneopfer genannt…» Wer den Mord begangen habe, so das Westschweizer Blatt, spiele im Grund genommen keine Rolle und schliesst den Kommentar mit der Aussage: «Der Mord an Boris Nemzow kann sich in einen ultimativen Appell vor dem Abgrund im Land wandeln. Aber angesichts seiner Brutalität kann er auch bedeuten, dass es bereits zu spät ist.»
Für die Berner Zeitung markiert der Moskauer Politikermord das Ende eines Zyklus. «Das Demokratiezeitalter hatte in Russland vor 25 Jahren mit spektakulären Politiker- und Journalistenmorden angefangen. Dann folgte eine Zeit der ‹Stabilisierung› und der einigermassen geordneten Verhältnisse. Nun scheint man wieder an dem Ausgangspunkt angelangt zu sein. Abhilfe muss gefunden werden. Aber doch nicht nach dem Rezept, sich um Putin zusammenzuschliessen.»
Boris Nemzow
Im März 1997 holte ihn der damalige Präsident Boris Jelzin nach Moskau. Nemzow übernahm für die kommenden eineinhalb Jahre das Amt des Vize-Ministerpräsidenten. Er gilt als einer der Architekten der liberalen Wirtschaftsreformen und wurde sogar als möglicher Nachfolger Jelzins gehandelt, der sich schliesslich aber für Putin entschied. Nemzow unterstützte den späteren Kreml-Chef zunächst, bevor er zu einem seiner ärgsten Widersacher wurde.
Im August 1998 schied Nemzow aus der Regierung aus. Als Fraktionschef der liberalen Partei Union der rechten Kräfte kritisierte er die Regierung fortan von der Oppositionsbank aus. Bei der Präsidentschaftswahl 2008 schickte ihn die Partei ins Rennen, Nemzow legte die Kandidatur aber vor der Wahl nieder.
Nemzow wurde regelmässig Opfer von Hacker- oder Abhörattacken, Kreml-nahe Websites berichteten über sein angeblich ausschweifendes Privatleben und vermeintliche Affären. Weil er gegen Haftstrafen für Putin-Gegner protestierte, wurde er vor einem Jahr selbst zu mehreren Tagen Gefängnis verurteilt.
Den Einschüchterungen durch die Behörden trotzte er aber immer wieder. 2008 gründete er mit anderen Oppositionellen wie dem früheren Schachweltmeister Garri Kasparow die Bewegung Solidarnost. Bei den Protesten gegen die Wiederwahl Putins ins Präsidentenamt zählte er 2012 zu den Hauptrednern.
Nemzow wurde in den vergangenen Jahren nicht müde, die grassierende Korruption in Russland anzuprangern. Dabei nahm er den Energieriesen Gazprom, die Verschwendung von Steuergeldern sowie die mutmassliche Bestechung bei der Organisation der Olympischen Winterspiele in Sotschi ins Visier. Auch die Ukraine-Politik Russlands kritisierte er.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch