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Der Faktor Vertrauen: Was ist seine Bedeutung für die Schweiz

Schüren die Sozialen Medien Populismus und Desinformation in der Schweiz so stark wie in den USA?

Der Bildschirm eines Handys mit diversen Social Media-Apps.
Keystone / Christoph Dernbach

Die Schweiz ist besser gegen Fake News geschützt als Länder wie die USA. Weil sie das bessere System und die umsichtigeren Bürger:innen hat – oder bloss, weil sich weniger Trollfabriken für die Schweiz interessieren? Darauf gibt es verschiedene Antworten.

Viele Menschen informieren sich über die Sozialen Medien statt über Radio, Fernsehen oder Zeitungen. Und viele Menschen sind in Sorge, dass deswegen wichtige Nachrichten untergehen, Falschinformationen stärker verbreitet werden und Leute in ihrer eigenen Filterblase festhängen.

Das gilt weltweit: Laut dem Reuters Digital News Report 2023Externer Link beschäftigt die Frage, was wahr und was falsch ist im Internet, 56% der Menschen auf der Welt. Die Anteile schwanken zwischen den Kontinenten: In Afrika ist der Wert mit 77% am höchsten. Darauf folgt Nordamerika mit 65%. Am Ende der Skala steht Europa mit 53%.

Nach Brexit, Trump-Wahl und dem Genozid an den Rohingya sind Fake News ein grosses Thema

2017 war das Jahr, in dem diese Bedenken überhandnahmen. Es war das Jahr, in dem Facebook als Beschleuniger von gesteuerten Falschinformationen und Hassrede benannt worden ist – am bekanntesten bei der Brexit-Kampagne und den US-Präsidentschaftswahlen 2016.

Die Vorwürfe gegen Facebook reichten bis zur Beihilfe zum Völkermord: August 2017 flohen 700’000 Angehörige der Rohingya-Minderheit aus Myanmar vor Gräueltaten des Militärs. Gegenwärtig sind mehrere Entschädigungsklagen hängig, die Facebook die Verantwortung für die aufgehetzte Stimmung in Myanmar und eine Mitverantwortung am Genozid vorwerfen.

Figuren mit dem Gesicht von Mark Zuckerberg und der Aufschrift Fix Fakebook
Protestfiguren 2018 vor der EU-Kommission in Brüssel anlässlich der Anhörung von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg. Keystone / Stephanie Lecocq

Seit 2017 ist viel passiert. Statt Facebook nutzen viele Menschen heute andere Kanäle häufiger, etwa WhatsApp oder Telegram. Auf zweifelhafte Informationen über den Brexit folgte eine Phase der zweifelhaften Informationen über die Corona-Pandemie, die sich online verbreitet haben. Auf diese folgten zweifelhafte Informationen über die russische Invasion in der Ukraine.

Doch nicht nur die Themen haben sich geändert: Es gibt auch mehr Forschung.

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Die USA als «das vulnerabelste Land» für Desinformation

Die Sozialen Medien wirken – anders als Radio und Fernsehen – losgelöst von Staatsgrenzen. Sie sind global. Entsprechend liegt der Schluss nahe: Wenn die Sozialen Medien Fake News, Desinformation und Polarisierung antreiben, tun sie das überall auf der Welt gleich. Aber so ist es nicht.

Es gibt Länder und Regionen, die gegenüber Online-Desinformation schutzloser sind als anderes. Besonders ausgeliefert sind die USA.

Die 2020 veröffentlichte Studie «Resilience to Online Disinformation: A Framework for Cross-National Comparative ResearchExterner Link» hat verschiedene europäische Länder und die USA angeschaut. Die USA wird dabei von einem Team um die Kommunikationswissenschaftlerin Edda Humprecht als Sonderfall im Bezug auf Online-Desinformation beschrieben.

Die Gründe dafür sind wirtschaftlich und strukturell: «Das Land sticht heraus durch seinen grossen Werbemarkt, seine schwachen öffentlich-rechtlichen Medien und den im Vergleich fragmentierte Newskonsum.» Durch die Grösse des Werbemarkts ist es attraktiv Fake News an die Social Media-Nutzer:innen dort zu leiten. Die Studie kommt zum Schluss, dass die USA “das vulnerabelste Land» für Verbreitung von Online-Desinformation ist.

Wer informiert sich in den Sozialen Medien?

Die Entwicklungen der letzten Jahre haben international aber zu einem stärkeren Bewusstsein für Online-Desinformation bei vielen Menschen geführt. Gemäss dem Reuters Digital News Report 2023 informieren sich nur noch 17% komplett unbekümmert via Social Media – die anderen sind besorgt, dass sie wichtige Infos verpassen oder in ihrer Meinung zu wenig herausgefordert werden.

Weiterhin nutzen viele die Sozialen Medien für Nachrichten, aber in manchen Ländern ist der Anteil kleiner geworden: In der SchweizExterner Link informierte sich 2018 jede:r Zweite:r über die Sozialen Medien – 2023 sind es noch 39%. Die USAExterner Link erreichte den bisherigen Rekordanteil von 51% bereits 2017; 2022 waren es noch 42%.

Höhere Werte gibt es in vielen afrikanischen Ländern. In NigeriaExterner Link nutzen gegenwärtig 78% die Sozialen Medien als News-Quelle.

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Für die politische Meinungsbildung waren die Sozialen Medien in der Schweiz ohnehin noch nie das entscheidende Medium: So ist das Fachbuch «Digitalisierung der Schweizer DemokratieExterner Link» 2021 zum Befund gekommen, dass «die sozialen Medien von einer klaren Mehrheit der Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger im Vorfeld von Wahlen und Abstimmungen nicht zur Meinungsbildung konsultiert» werden.

Als Informationsquelle zur Politik in der Schweiz sind Radio, Fernsehen und Zeitungen bis heute wichtiger. Ihnen wird auch stärker vertraut.

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Tobias Keller, Medien- und Politikwissenschaftler bei gfs.Bern, der an diesem Fachbuch «Digitalisierung» mitgearbeitet hat, nennt gegenüber SWI swissinfo.ch einige Faktoren, die die Situation in der Schweiz von jener in den USA und in Brasilien unterscheiden. Die reichweitenstarken Medien in den USA sind «deutlich politischer gefärbt als in der Schweiz – und die Sozialen Medien befeuern politisch-gefärbte Sichtweisen». In Brasilien wiederum sind WhatsApp und Telegram «sehr wichtige Informationskanäle». Einseitige oder falsche Informationen werden in dieser Halböffentlichkeit selten aufgeklärt. 

Tobias Keller stützt sich mit einer Hand auf dem Tisch auf.
Tobias Keller ist Medien- und Kommunikationswissenschaftler bei gfs.Bern. zVg

Das Zusammenspiel aus öffentlich-rechtlichen und privaten Medien, sowie das Mehrparteiensystem mit seiner konsensorientierten Politik sind laut Keller Faktoren, warum die Schweiz im internationalen Vergleich resilienter gegen Polarisierung und Populismus im Netz ist.

«Das Vertrauen ins politische System und die Organe ist in der Schweiz schon fast traditionell deutlich grösser und stabiler als im Ausland. Und die direkte Demokratie wird als Korrektiv sehr geschätzt – anstelle von Faust im Sack oder auf der Strasse, wie es dann halt in indirekten Systemen eher geschieht», findet Keller.

In «Digitalisierung der Schweizer Demokratie» heisst es, dass die häufigen Abstimmungen eine Art Training sind für das Aufspüren von Desinformation: «Durch Hunderte von beurteilten politischen Vorlagen und erlebten Kampagnen haben die Schweizer Stimmberechtigten in der Summe eine hohe Routine in der Beurteilung von diametralen Informationen (…). Das erhöht die Resistenz gegenüber zweifelhaften Informationen» – und zwar unabhängig vom Kanal.

Mit anderen Worten: Die Schweizer:innen sind es sich schon vom Abstimmungsflyer gewöhnt, dass sie Informationen unabhängig vom Medium nicht immer vertrauen können. Ebenso, wie es Populismus nicht erst seit Facebook gibt.

Populismus in der Schweiz ist älter als Facebook

Die Sozialen Medien gelten nicht nur als Fake News-Schleuder, sondern werden häufig auch für die politische Polarisierung und den Erfolg populistischer Kräfte verantwortlich gemacht.

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Die Kommunikationswissenschaftlerin Sina Blassnig von der Universität Zürich untersuchte für ihre Dissertation, wie populistische Kommunikation im Internet stattfindet. Dabei verglich sie unter anderem, wie oft und was für populistische Aussagen Politiker:innen aus der Schweiz, Deutschland, den USA und Grossbritannien in politischen Talk-Shows und im Internet machen.

Dabei schwang anders als erwartet nicht die USA obenaus, sondern in einem Teil die Schweiz. «Entgegen unserer Erwartung fanden wir in Bezug auf Volkszentrismus keine signifikanten Länderunterschiede», führt Blassnig gegenüber SWI swissinfo.ch aus. Als volkszentriert gilt eine Art von populistischer Kommunikation, die das Volk als Einheit annimmt und dessen Souveränität fordert. «Anti-Elitismus war signifikant tiefer in den USA als in den anderen drei Ländern. Die Ausgrenzung von Einwanderer:innen, Ausländer:innen, religiösen oder anderen sozialen Gruppen war in der Schweiz signifikant höher als in den anderen drei Ländern.» Die Untersuchung fand 2014 kurz nach der Masseneinwanderungsinitiative statt, was ein Teil der Erklärung für diese Ergebnisse sein könnte.

Blassnig hat den Eindruck, dass der «Diskurs über Populismus» mitbewirkte, dass «Akteure der extremen Rechten» gestärkt und teilweise verharmlost wurden. «Extremismus, Autoritarismus, Rassismus oder Sexismus», die häufig mit Populismus einhergehen, sieht sie als die eigentlichen Probleme.

Laut ihr sind «gewisse Merkmale des politischen Systems der Schweiz», die oft als Hürden für Populismus betrachtet worden sind, diesem eher zuträglich – etwa die häufigen Abstimmungen. «Die regelmässigen Volksabstimmungen könnten nämlich eine permanente populistische Kampagne fördern und damit die einschränkenden Auswirkungen des Direktorial- und Proporzsystems ausgleichen», führt Blassnig aus. Auch kulturell gibt es für antielitären Populismus in der Schweiz Anknüpfungspunkte: «Die politische Kultur der Schweiz bietet mit ihrem ‹Milizsystem›, ihrem ausgeprägten Lokalismus und ihrer Euroskepsis einen fruchtbaren Boden für eine anti-elitäre, volkszentrierte Rhetorik.»

Obwohl sich das ganze politische Spektrum «ab und zu populistischer Rhetorik» bediene, gebe es in der Schweiz «mehrheitlich Rechtspopulismus». Dieser Populismus ist aber älter als das flächendeckende Internet: «Im Vergleich zu anderen Ländern hat die Schweiz bereits seit den 1990er-Jahren eine starke rechtspopulistische Bewegung.»

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Die Schweiz: uninteressant für Russland und China

Edda Humprecht forscht an der Universität Zürich und ist Hauptautorin jener Studie, die die USA als «das vulnerabelste Land» für Desinformation ausmachte.

In dieser Studie ist die Schweiz Teil des Clusters nordeuropäischer Länder, die die höchste Widerstandsfähigkeit gegen schädliche Fake News haben. Doch für Humprecht hat das neben der Demokratiestabilität auch damit zu tun, dass es sich um ein kleines, durch vier Sprachen gegliedertes Land mit wenig geopolitischer Bedeutung handelt. 

Edda Humprecht guckt in die Kamera.
Edda Humprecht ist ausserordentliche Professorin an der Norwegian University of Science and Technology (NTNU) in Trondheim und forscht am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich. zVg

Ist die Schweiz generell resilient gegen Polarisierung und Populismus – oder beschränkt sich die Resilienz auf die Sozialen Medien als Beschleuniger von Desinformation? «Weder noch», sagt Humprecht. «Polarisierung und Populismus spielen eine ebenso grosse Rolle wie in vielen anderen Ländern. Die Sozialen Medien werden stark genutzt in der Schweiz. Das Land ist einfach für orchestrierte Kampagnen weniger attraktiv.»

Zwar gebe es Resilienzfaktoren wie ein ausgebautes Mediensystem. «Doch die Schichten, die auf Desinformation aus dem rechten Spektrum anfällig sind, nutzen die öffentlichen Medien häufig ebenfalls nicht.» Den grösseren Faktor sieht Humprecht gesellschaftlich: «In der Schweiz ist die Zahl wirtschaftlich an den Rand gedrängter kleiner als in Frankreich.» Dies trage zu einer gewissen Resilienz bei, ebenso wie der kleine Werbemarkt.

Eine Nachricht in den USA kann hunderte Millionen Menschen erreichen. Die neun Millionen in der Schweiz erreicht man nicht alle mit Deutsch, Französisch oder Italienisch, was den kleinen Werbemarkt nochmals schrumpft.

In der Studie haben Humprecht und ihre Mitautoren die Werbemärkte und damit die Profitorientierung als Massstab genommen, weil diese besser messbar ist als geopolitische Bedeutung. «Aber die Geopolitik ist genauso wichtig. Die Schweiz ist da in einer guten Lage: Für Russland oder China ist es weniger interessant, in der Schweiz Einfluss zu nehmen als in einem grossen Land.»

Ein Grund, warum die Schweiz weniger von Fake News bedroht ist als die USA, ist also schlicht: Die Schweiz ist nicht so interessant wie die USA.

Editiert von David Eugster.

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