Pflegeinitiative: «Viele geben auf und kündigen»
Pflegefachkräfte erhielten während des Corona-Lockdowns viel Beifall aus der Bevölkerung. Nun fordern sie Unterstützung an der Urne: SBK-Präsidentin Sophie Ley sagt, dass es vor allem darum gehe, Menschen im Beruf zu halten.
Die Zahlen sind besorgniserregend: Gemäss Schätzungen des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums könnten 2030 in der Schweiz 65’000 Pflegefachkräfte fehlen. Um Gegensteuer zu geben, lancierte der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) eine eidgenössische Volksinitiative, über welche die Bürger:innen am 28. November abstimmen werden.
Die Vorlage fordert von Bund und Kantonen, dafür zu sorgen, dass es auch in Zukunft genügend qualifizierte Pflegekräfte gibt. Zudem sollen neue Regeln und Gesetze für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie erlassen werden.
Das Parlament arbeitete einen indirekten Gegenvorschlag aus, der vorsieht, dass in den nächsten acht Jahren rund eine Milliarde Franken in eine Ausbildungsoffensive investiert wird. Das sei gut, sagt SBK-Präsidentin Sophie Ley, aber nicht gut genug.
swissinfo.ch: Die Initiative «Für eine starke Pflege» will den Pflegenotstand bekämpfen. Was bedeutet das für die Praxis?
Sophie Ley: Sie müssen nur die vielen offenen Stellen im Pflegesektor betrachten: Das sind 11’000 gemäss Zahlen vom zweiten Quartal 2021. Hinzu kommt, dass viele Institutionen ihre Stellen gar nicht mehr ausschreiben, weil es keine Bewerber:innen mehr gibt.
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Was bedeutet das für die Arbeit des Pflegepersonals?
Viele arbeiten so hart, dass sie ein Burnout erleiden, andere geben auf und kündigen. Zahlen aus der Zeit vor der Pandemie zeigen, dass rund ein Drittel der Pfleger:innen den Beruf vor dem 35. Altersjahr verlässt.
Daran sind vor allem die schlechten Arbeitsbedingungen schuld. Der Personalstand reicht nicht aus, um alle Aufgaben zu bewältigen und eine gute Patientenversorgung zu gewährleisten. Covid-19 hat die Situation nur verschlimmert.
Mit dem Gegenvorschlag wollen Bundesrat und Parlament bis zu eine Milliarde Franken für eine Ausbildungsoffensive ausgeben. Reicht das nicht?
Solche Investitionen sind nutzlos, wenn die Arbeitsbedingungen nicht verbessert werden. Es ist wichtig, auszubilden, aber wir müssen auch dafür sorgen, dass die Menschen im Beruf verbleiben.
Ja, es gibt mehr Studierende und Berufseinsteiger:innen, aber auch mehr Aussteiger:innen. Einige brechen bereits während der Ausbildung ab, weil das Studium nicht an die Bedürfnisse angepasst ist.
«Es ist wichtig, auszubilden, aber wir müssen auch dafür sorgen, dass die Menschen im Beruf verbleiben.»
Die Bildungsoffensive wäre zudem auf acht Jahre begrenzt. Das reicht nicht, um den Fachkräftemangel zu beheben.
Der indirekte Gegenvorschlag sieht vor, dass Pflegefachpersonen gewisse Leistungen direkt zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung abrechnen können. Würde dies nicht dazu beitragen, das Ansehen des Berufs aufzuwerten, so wie Sie es fordern?
Das ist an sich ein interessanter Vorschlag. Aber davon wird nur ein Teil des Pflegepersonals profitieren können. Solche Massnahmen müssen mit einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen einhergehen, sonst sind sie reine Geldverschwendung.
Besteht nicht die Gefahr, dass die direkte Abrechnung die Gesundheitskosten in die Höhe treiben wird?
Nein, die Gesundheitskosten steigen ohnehin, unabhängig von unseren Forderungen. Eine von uns in Auftrag gegebene Studie hat ausserdem gezeigt, dass der Mangel an qualifiziertem Personal das Risiko unerwünschter Ereignisse erhöht.
Es kommt häufiger zu Komplikationen, die Sterblichkeitsrate steigt, und die Krankenhausaufenthalte verlängern sich. Mehr Personal bedeutet geringere Gesundheitskosten, weniger Komplikationen und kürzere Spitalaufenthalte.
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Sie fordern bessere Arbeitsbedingungen. Aber ist es Aufgabe der Regierung, sich hier einzumischen?
Die Pflegeinitiative ist das Resultat von 20 Jahren Bemühungen. Immer wieder stellten wir Anträge an das Parlament und versuchten, das Bewusstsein für den Personalmangel zu schärfen. Als nichts geschah, ergriffen wir die letzte Möglichkeit, die uns blieb: Das Instrument der direkten Demokratie.
Besteht bei einer Verfassungsänderung nicht die Gefahr, dass einer bestimmten Berufsgruppe ein privilegierter Status eingeräumt wird und Ungleichheiten entstehen?
In der Verfassung gibt es bereits einen Artikel über die medizinische Grundversorgung. Ich sehe nicht, warum die Erwähnung der Krankenpflege ein Problem darstellen sollte.
Anne-Geneviève Bütikofer kämpft gegen die Pflegeinitiative. Im Interview erklärt sie, warum sie dagegen ist:
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Pflegeinitiative: «Keine angemessene Antwort auf den Pflegenotstand»
(Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer)
(Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer)
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