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Abstimmungen 26.9.21: Ehe für alle und 99%-Initiative

Ehe für alle: Die Schweiz überholt ihre Nachbarn

Farbig und laut: Jubel im Lager der Sieger:innen am Abstimmungssonntag in Bern. Keystone / Peter Schneider

Die kleine, konservative Schweiz öffnet sich dem gesellschaftlichen Wandel, so lautet die Bilanz der internationalen Presse nach dem Abstimmungssonntag. Mit der Samenspende für lesbische Paare ist das Land nun sogar einigen Nachbarn voraus.

Nach dem deutlichen Ja der Schweiz am letzten Wochenende gibt es in Westeuropa nur noch drei Länder, in denen die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare noch nicht legal ist: Italien, Griechenland und Liechtenstein.

Im benachbarten Italien fragt die führende Tageszeitung La Repubblica in ihrer Ausgabe vom Montag: «Werden italienische Homosexuelle in die Schweiz eilen, um zu heiraten? Das wäre möglich, denn das Zivilgesetzbuch erlaubt die Eheschliessung zwischen Ausländerinnen und Ausländern, die nicht in der Schweiz wohnhaft sind», heisst es im Artikel.

Schweiz öffnet sich

Die Schweiz ist nun also keine Nachzüglerin mehr, aber das hat lange gedauert. Fast 40 Jahre beanspruchte der Kampf der homosexuellen Community. Die Schweizer Entscheidung folgt 20 Jahre nach jenem der Niederlande, dem ersten Land, das diesen Schritt gemacht hatte.

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Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Ehe für alle: Das Ja der Schweizer:innen kam spät, dafür umso deutlicher. Politikanalyst Claude Longchamp weiss die Gründe.

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Der Entscheid habe jedoch «einen besonderen Wert», stellt La Repubblica fest. In einem Interview mit der italienischen Zeitung sagt der Genfer Politikwissenschaftler Pascal Sciarini, dass Frankreich und Deutschland zwar schneller gewesen seien. «Es gibt jedoch einen Unterschied. In diesen Ländern haben nicht die Menschen entschieden, sondern die Regierungen und Parlamente.» Seiner Meinung nach zeigt das Votum mit 64,5 % Ja-Stimmen, dass «die Schweiz wirklich fortschrittlich geworden ist».

Bereits eine andere Abstimmung habe gezeigt, dass die Schweiz fähig sei, sich zu öffnen, erklärt Il Fatto Quotidiano. Die italienische Zeitung bezieht sich auf den Volksentscheid im Februar 2020, bei dem die Schweizer:innen eine Strafnorm zur Kriminalisierung von Homophobie angenommen haben.

Viele internationale Medien sind der Meinung, dass die traditionell konservative Schweiz diese Schritte langsam vollzogen hat. Die Associated Press (AP) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Frauen erst 1971 das Wahlrecht auf Bundesebene erhielten. «Ein Kanton wartete sogar bis 1990, um ihnen das aktive und passive Wahlrecht zu gewähren», erinnert die Nachrichtenagentur.

Die bittere Kampagne ist nicht vergessen

AP, wie auch andere Medien, erwähnen den bisweilen virulenten Ton der Kampagne. Sie beschreibt ihn als «gespickt mit Anschuldigungen über unfaire Taktiken, wobei sich die Gegnerinnen und Gegner über das Zerstören von Plakaten, feindselige E-Mails und Beleidigungen sowie Versuche, Menschen mit abweichender Meinungen zum Schweigen zu bringen, beschwerten.»

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Die schockierenden Plakate, die schon vor der Wahl ein Thema waren, greifen auch die ausländischen Medien auf. «Die Plakate beklagten die Kommerzialisierung des Kindes und behaupteten, dass die Ehe für alle den Vater tötet», berichtet Agence France Presse (AFP). Angesichts der gegen Ende hin sehr offensiv geführten Gegenkampagne, die sich auch in den Umfragen niederschlug, hält die AFP das Ausmass des Sieges doch für eine Überraschung.

Zwei Nachbarn einen Schritt voraus

«Alle Versuche, sich der Ehe für alle noch in den Weg zu stellen, sind gescheitert», schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung. In einer der meistgelesenen deutschen Tageszeitungen heisst es, das Nein-Lager habe «vergeblich versucht, mit Fotos von weinenden Kindern für ihre Sache zu werben». Die Schweizer:innen stimmten jedoch «mit deutlicher Mehrheit gegen die Bedenken».

Obwohl die Schweiz «im Vergleich zu anderen westlichen Ländern bei der Öffnung der Ehe eher spät dran ist», ist sie Deutschland dennoch einen Schritt voraus, bilanziert die Süddeutsche Zeitung. In der Schweiz haben lesbische Paare nun Zugang zu Samenspenden, und beide Frauen werden von Geburt an rechtlich als Mütter anerkannt. «Dieser letzte Punkt, die so genannte Co-Mutterschaft, ist in Deutschland nicht möglich: Die nicht-biologische Mutter muss das Kind adoptieren», erklärt die führende deutsche Tageszeitung.

Auch die österreichische Presse verweist darauf, die Schweiz sei nun einen Schritt voraus. Im Interview mit dem ORF Vorarlberg begrüsst Mario Lindner, der Gleichstellungssprecher der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, das 2020 von der Schweiz verabschiedete Anti-Homophobie-Gesetz, «das LGBTIQ*-Menschen umfassend vor Diskriminierung schützt». Dieser Schritt sei «in Österreich bis heute blockiert».

Der österreichische Politiker bezeichnete die Einführung der Ehe für alle im Nachbarland als «massiven Erfolg, nicht nur für die Schweizer LGBTIQ-Community, sondern auch für alle Menschen, die sich in Europa für Menschenrechte und Respekt einsetzen».

Gleichgeschlechtliche Paare müssen sich nun noch neun Monate gedulden, bevor sie Liebe und Gleichberechtigung feiern können. Die ersten Ehen zwischen zwei Männern oder zwei Frauen sollen im Juli 2022 geschlossen werden.

*Akronym für lesbische, schwule, bisexuelle, transgender

Marc Leutenegger

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