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Service public – Ein Blick in Volkes Seele

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«Die Gotthardpost» (1873), Rudolf Koller Keystone

Politik ist voller Widersprüche.

Da soll der Service public gestärkt und gar ausgebaut werden, das Anliegen wird aber in einer Initiative verpackt, von der letztlich das Gegenteil zu befürchten ist: Eine weitere Ausdünnung des Dienstleistungsangebots, Abbau in den Bergregionen und Privatisierung. Der Schweizer Souverän hat im Abstimmungskampf eine Kehrtwende vollzogen. Auf die Zustimmung zur «Pro Service Public»-Initiative folgte nun die klare Ablehnung am Abstimmungssonntag. 

Wie die erfreuten Gegnerinnen und Gegner feststellten, habe das Volk nach den hohen Zustimmungsraten in den ersten Meinungsumfragen zum Glück «gemerkt», dass es sich hierbei um einen Rückschritt in die 1990er-Jahre, um eine Schwächung des Service Public und letztlich um eine verfängliche Mogelpackung handle.

Larissa M. Bieler ist Chefredaktorin von swissinfo.ch Nikkol Rot

Wer sich diese anfängliche Zustimmung erklären möchte, muss sich dort hinbewegen, wo nostalgische Gefühle heute noch ihren festen Platz finden, wo sich vieles angesammelt hat, auch Gewissheiten, und wo man eben nicht gerne aufräumt, weil sonst alte Pfade gekappt werden. In den Estrich zum Beispiel. Wann habt Ihr den Eltern beim letzten Mal beim Räumen des Estrichs zugeschaut?

«Du brauchst das nicht mehr, Du hast längst ein Neues.» «Doch, es erinnert mich an meine Kindheit.» «Gib doch das alte Geschirr weg.» «Aber es hat meiner Mutter gehört.»

So war auch der Abstimmungskampf ein Ringen um Sentimentalitäten, mit dem, was früher gut war, auf dem Vieles in der Schweiz aufgebaut hat. Vertrauen und Pflichtgefühl beispielsweise – beides liegt immer noch ganz nah beim Staat. Blickt man indes noch tiefer in diese «Sympathiewerte», steigt man direkt in Volkes Seele hinab. Die Interpretation der Gegnerinnen und Gegner, allein ihre Kampagne habe die vermeintlich unwissenden Bürgerinnen und Bürger aufgeklärt, greift zu kurz.

Vielleicht gibt es noch andere Gründe, nicht nur das subjektive Ärgernis über eine Dienstleistung oder ein Produkt, welche die Schweizerinnen und Schweizer zu diesen ersten hohen Zustimmungsraten bewogen hatten.

Der Grund liegt im Service public selbst. Viele ältere Schweizerinnen und Schweizer mögen sich an eine Zeit erinnern, in der eine demokratische Gesellschaft nicht nur auf Freiheit, sondern auch auf Gleichheit aufbaute. Der Service public gründet auf dem Wert der Gleichheit, der auch in der Schweiz zunehmend von sozialer Ausgrenzung verdrängt wird. Zugang für alle, gleiche Qualität für alle, und alles zu bezahlbarem Preis. Damit ist der Service public ein wesentlicher Teil der demokratischen Geschichte in der Schweiz. Mit Sentimentalität hat dies nichts zu tun. Viel eher mit der berechtigten Besorgnis, dass in einer Debatte  – die künftig noch stärker von rechtskonservativen Kreisen geprägt ist – die Grundlagen des Zusammenlebens und des gesellschaftlichen Ausgleichs in Frage gestellt werden.

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«Pro Service Public»: Überraschend klares Nein

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Kein einziger der 26 Kantone hiess die Initiative «Pro Service Public» gut. Das überrascht, denn Trendumfragen hatten einen knappen Abstimmungsausgang erwarten lassen. Auch am Volksmehr ist die Initiative gescheitert, sie wird mit 67,6 Prozent abgelehnt. Damit folgt das Stimmvolk Bundesrat und Parlament, welche die Initiative ungewöhnlich deutlich zur Ablehnung empfohlen haben.  Mit einem überdurchschnittlich hohen Ja-Anteil…

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Wer das von den Politikern als Nostalgie auslegt, nimmt die Schweizer Bürgerinnen und Bürger nicht ernst. Die Schweiz steht jetzt vor einem grossen Kampf um den Service public, der schon lange vor dem Abstimmungssonntag lanciert wurde. Und es ist dies ein Machtkampf: Die Wirtschaftsmacht ringt mit der Demokratie. Oder anders formuliert: Die Privatisierung der öffentlichen Güter, die allen offen stehen sollten, minimiert den demokratischen Gestaltungsspielraum. Mit dem Service public ist die Schweiz geworden, was sie heute ist – oder besser, wie es die rund 33% der Ja-Stimmenden auch ausgedrückt haben: Was die Schweiz einmal war, ihre integrative Funktion, die sie wahrnahm und damit alle Bevölkerungsgruppen gleichberechtigt mit einschloss. 

Die Fokussierung auf Leistungen und Produkte sollte in der Klärung der Frage, wie weit die unternehmerische Freiheit der bundesnahen Betriebe gehen soll, daher nicht allein wegweisend sein. Das Wesentliche geht dabei zu leicht vergessen: Bei der Klärung der Rolle der Service-Public-Unternehmen geht es auch um die Identität der Schweiz.

Umso unverständlicher ist, wie überrascht sich Schweizer Politiker ob der Heftigkeit der Debatte zeigen können. Dabei geht es nun um die grundlegenden Werte – nicht um Geld oder fette Gewinne.

Die Emotionen zeigen aber noch etwas anderes: Wie sehr die Schweiz ihren Service public liebt und auch braucht – und zwar bis in die hintersten Täler in den entlegendsten Randregionen. Der politische Gegenwind allerdings hat verunsichert und irritiert. Und er täuscht darüber hinweg, dass sich der Service public längst tief in den Gefühlshaushalt der Schweiz eingenistet hat, und was man liebt, darf und soll man auch kritisieren. Diese Kritik bedeutet aber nicht, dass man nun die öffentlichen Dienstleistungen Privaten überlassen möchte. Diese Kritik muss richtig eingeordnet und sollte nicht politisch instrumentalisiert werden.

Die Schweizer Politik will klären, wie sie den Service public der Zukunft definieren will. «Was ist Grundversorgung?», fragte Bundesrätin Doris Leuthard nach der Abstimmung an der Medienkonferenz in die Runde. Die Debatte ist notwendig. Aber sie muss ehrlicher geführt werden, denn sie trifft die Schweizer Demokratie im Mark. Wird nur noch Einzelinteressen Raum gegeben, gibt es keine homogene Gesellschaft mehr, die Gesellschaft fragmentiert sich weiter. Allen Politikern, die sich nach der Abstimmung für eine Stärkung des Service public ausgesprochen haben, sei nun dieser Blick in Volkes Seele empfohlen. 

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