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Das Ständemehr ist kein Schweizer Unikum

Sinnbild als Bollwerk gegen die Dominanz der Starken – und bisweilen auch den Willen des Volkes: Das Haus der Kantone in Bern. Keystone

Nach der Abstimmung sorgt in der Schweiz ein Thema für rote Köpfe: das Ständemehr. An diesem scheiterte die Konzernverantwortungs-Initiative. Dabei hatte die Mehrheit der Stimmenden Ja gesagt. Betrachtungen zu einem Mechanismus, den auch andere Staaten kennen.

37’500 Stimmen Differenz: Das Ja zur Konzernverantwortungs-Initiative fiel mit 50,7% hauchdünn aus. Doch am Schluss des Abstimmungs-Tages lautete das Verdikt trotzdem: Nein, weil die Mehrheit der Kantone gegen die Vorlage waren.

Was ist passiert? Ist unsere hochgelobte direkte Demokratie – kein Land ruft seine Bürgerinnen und Bürger öfters zur Urne als die Schweiz – nichts als Lug und Trug? Hat sich die gerühmte direkte Demokratie selber ad absurdum geführt?

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Nur die statistische Häufung besehen, müssen wir sagen: Viel Lärm um nichts. Seit der Einführung der Volksinitiative 1891 wurden 481 solche lanciert – und nur zwei scheiterten allein am Ständemehr: 1955 eine Mieterinitiative und eben jetzt die Konzernverantwortungs-Initiative.

Trotzdem: Das Phanömen sagt sehr viel über die Geschichte und das Funktionieren des Schweizer Bundesstaats aus.

Ständemehr – was genau ist das?

Verfassungsänderungen benötigen in der Schweiz zwingend das «doppelte Mehr»: die Mehrheit in der Volksabstimmung und die Mehrheit der 26 Kantone. Die Klausel ist in mehrfacher Hinsicht ein Minderheitenschutz, kann aber noch viel mehr.

Schutzmechanismus I: Majorisierung der Kleinen

Es ist ein Mechanismus, mit dem die Väter der Schweizerischen Bundesverfassung die kleineren Kantone davor schützen wollten, damit sie nicht von den grösseren Kantonen und deren politischen und ökonomischen Macht überfahren werden können.

Zur Erinnerung: Die moderne Schweiz entsprang einem Bürgerkrieg, in dem die Minderheit der Katholisch-Konservativen den mächtigeren Liberalen und Radikalen – den Vorläufern der heutigen freisinnigen Partei – unterlagen. Das Ende dieses «Sonderbundskriegs» führte zur Vereinigung der Kantone im neuen Bundesstaat.

Die katholischen Kantone waren also alles andere als erfreut, Teil dieser neuen Demokratie Schweiz zu sein, in dem die Mehrheit der Radikalen den Ton angaben.

Schutzmechanismus II: föderaler Zusammenhalt

Das Ständemehr gibt allen Kantonen genau dasselbe Gewicht – nämlich je eine Stimme. Ausnahme: die sechs Halbkantone, die je mit einer halben Stimme zu Buche schlagen.

Das führt zu massiven Verzerrungen: Heute ist die Stimme eines Bürgers aus Appenzell Innerrhoden 40 Mal mehr wert als die einer Zürcherin.

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Doch die massive Überhöhung der Stimme aus dem Mini-Kanton gegenüber jener aus dem Grosskanton bildet eine Klammer, welche die heterogene Schweiz mit ihren verschiedenen Kulturen, Sprachen, Religionen und Räumen zusammenhält.

Schutzmechanismus III: Die Drohkulisse

Die Schweiz hat kein Verfassungsgericht. Wie also das Risiko bändigen, dass das Land durch unrealistische oder extreme Volksinitiativen – begünstigt von einem besonderen politischen Momentum – auf den Kopf gestellt wird? Das Ständemehr wirkt hier als Handbremse: Wer eine Volksinitiative lanciert, muss im Hinterkopf haben, dass sie nur gelingen kann, wenn auch die Mehrheit der Kantone an Bord ist.

Dies macht das Ständemehr zu einem der wichtigsten Stabilitätsfaktoren der Schweiz. Es ist entscheidend für die sprichwörtliche politische und gesellschaftliche Stabilität des Landes.

Kein Sonderfall Schweiz

  • USA: Bei den Präsidentenwahlen können das Volksmehr und das Mehr der entscheidenden Elektoren auseinandergehen, wie etwa die Wahl 2016 zeigte. Insgesamt gab es fünfmal einen Präsidenten, der in der Volkswahl unterlag.
  • Deutschland: Hier trägt der Bundesrat, die Kammer der Bundesländer, zur föderalen Balance bei.
  • Australien: Down Under kennt wie die Schweiz das doppelte Mehr bei Verfassungsabstimmungen. Aufgrund des faktischen Zweiparteiensystems wird der Mechanismus aber rund jeder zehnten Vorlage zum Verhängnis.
  • Philippinen: Hier ist der Mechanismus das effektive Bollwerk gegen «die Gefahr des Volkswillens». Bereits bei der Unterschriftensammlung für eine Volksinitiative zur Verfassungsänderung müssen einerseits 12% der Stimmberechtigten unterschreiben, andererseits drei Prozent aus jedem der 243 Wahlkreise.

Die Befürworter in der Schweiz

Justizministerin Karin Keller-Sutter hat in ihrer Reaktion auf das Verdikt das Hohelied auf das Ständemehr gesungen. Auch sie hob die Schutzaspekte hervor. Die besten Verbündeten der hohen Magistratin, die stellvertretend für den Bundesrat steht, sind natürlich die Kantone selbst, insbesondere die kleinen, das Parlament und praktisch alle Parteien.

Die Kritiker

Aktuell sind es natürlich die Vertreterinnen und Vertreter aus dem Initiativkomitee. Sie sehen sich durch einen alten politischen Zopf aus dem vorletzten Jahrhundert um die Früchte ihres Erfolgs in der Volksabstimmung gebracht. Auch Stimmen aus der politischen Linken, aus der Zivilgesellschaft sowie aus der Politikwissenschaft sind gegen das Ständemehr. Dieses bremse die politische Entwicklung, so die Hauptkritik. 

Uralter Zopf

So falsch liegen sie nicht: Die Schweiz von heute hat nur noch wenig mit der Schweiz von 1848 gemein. Nach über 170 Jahren ist es legitim zu hinterfragen, ob und wie ein politisches «Geschäftsmodell» an die Schweiz des 21. Jahrhunderts anzupassen sei. Und nur so nebenbei: Demokratie heisst Debatte.

Ideen für Reformen

Ideen für Reformen liegen seit Jahren auf dem Tisch. Hier die gängigsten, die nun wieder diskutiert werden:

  • Erhöhung des Ständemehrs auf zwei Drittel der Kantone.
  • Ausschaltung des Ständemehrs bei über 55% Ja-Stimmen für eine Initiative.
  • Gewichtung der Kantonsstimmen: z.B. erhalten grössere Kantone drei Stimmen, mittlere zwei und kleine eine Stimme.
  • Abschaffung.

Chancen einer Reform

Hat angesichts der wieder aufgeflammten Debatte das letzte Stündlein des Ständemehrs geschlagen? Nein! Denn der beste Schutz des Ständemehrs ist… das Ständemehr. Nie würde die Mehrheit der Kantone einer Verfassungsänderung zustimmen, die sie entmachtet.

Mitarbeit: Bruno Kaufmann

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