«Schweiz bleibt im goldenen Käfig»
Der Nationalrat hat sich zum zweiten Mal gegen eine Revision des Kartellgesetzes ausgesprochen. Somit ist das Projekt, das gegen zu hohe Preise in der Schweiz kämpfen sollte, definitiv vom Tisch. Die Kommentare in den Schweizer Zeitungen pendeln zwischen Bedauern und Verständnis.
Zwei grosse Ziele hatte die Revision des Kartellgesetzes verfolgt: Der Bundesrat hatte 2011 vorgeschlagen, die Wettbewerbskommission (Weko) zu einem Gericht umzubauen und die Bedingungen für Absprachen zu verschärfen. Damit hätte der so genannten «Hochpreisinsel» Schweiz entgegengewirkt werden sollen.
Nun hat am 17. September eine Mehrheit von 99 Parlamentariern im Nationalrat gegen 80 Stimmen bei 12 Enthaltungen das Projekt bachab geschickt, indem gar nicht auf die Revision eingetreten wurde.
Viele Volksvertreter erachteten die Revision als gescheitert, da sie in den Debatten des Ständerats zu stark aufgebläht worden sei. Wirtschaftsvertreter hatten zu viele Nachteile für Unternehmen befürchtet, zumal beispielsweise Coca Cola und Toblerone gedroht hatten, die Schweiz bei einer Annahme des Gesetzes zu verlassen. Und Gewerkschaftskreise hatten Angst vor einem möglichen Stellenabbau.
«Fuder überladen»
«Das Kartellgesetz schützt den Wettbewerb unter den Marktteilnehmern. Nicht mehr und nicht weniger. Dieses Wissen ist in der Arbeit an der Kartellgesetzrevision völlig verloren gegangen», schreiben das St. Galler Tagblatt und die Neue Luzerner Zeitung.
Das Parlament habe das Fuder eindeutig überladen, indem immer mehr Änderungsanträge eingereicht worden seien. «Man wurde den Eindruck nicht los, dass die Gesetzgeber eine eierlegende Wollmilchsau gebären wollten. Der Aktivismus gipfelte im Versuch, das Kartellgesetz als Speerspitze im Kampf gegen zu hohe Preise in der Schweiz einzusetzen.»
Mit jedem neuen Artikel hätten sich neue Gegner gefunden, bis am Ende eine «bunt gemischte Truppe aus allen Fraktionen» die Vorlage zu Boden gebracht habe. «Schade ist es um all jene Ansätze in der Gesetzesrevision, die vermutlich eine Mehrheit gefunden und die Wettbewerbsordnung modernisiert hätten.»
Mit dem Nationalratsentscheid sei die jahrelange Arbeit «zwar für die Katz». «Die auf Abwege geratene Revision hätte aber auch kaum mehr auf Kurs gebracht werden können.»
Kein gutes Haar an der Revision lässt die Basler Zeitung. «Die bundesrätliche Einladung zum Aktivismus liessen sich zahlreiche Parlamentarier aus allen Parteien nicht entgehen», schreibt ihr Kommentator: «Vor allem der Ständerat profilierte sich in der Verabschiedung von Paragrafen, die wirtschaftspolitische Kollateralschäden für Konsumenten und Unternehmen (und deren Angestellte) gehabt hätten.»
«Die Allianz zwischen Gewerbeverband und Gewerkschaften hat das Kartellgesetz abgeschossen», kommentieren die Tribune de Genève und 24 heures. «Das Fiasko war programmiert. Denn der Kampf gegen hohe Preise wog weniger als die von Gewerkschaften und Gewerbeverband geteilte Angst, am Ende würden lokale Unternehmen bestraft.»
10 Milliarden ins Ausland
In der Schweiz habe man das Gefühl, im goldenen Käfig zu leben, schreibt der Tages-Anzeiger. «Golden, weil wir Bewohner eines der reichsten und teuersten Länder der Welt sind. Käfig, weil selbst ernannte Patrioten es für unpatriotisch halten, wenn Schweizer Konsumenten ihre Kaufkraft im Ausland aufzubessern versuchen.»
Ein gewichtiger Grund für das Scheitern des Reformpakets sei wohl «der Postenschacher um die Mitglieder der Wettbewerbskommission» gewesen: «Heute sitzen in der zwölfköpfigen Weko fünf Verbandsvertreter. Die Revision sah eine Professionalisierung vor, bei der die Weko um dieses Quintett verkleinert worden wäre.»
In der Debatte habe der Gewerbeverbandspräsident zudem erklärt, «das revidierte Gesetz hätte das Schweizer Modell geschädigt». «Gehört zum Schweizer Modell, dass wir jährlich fast 10 Milliarden Franken für Fleisch oder Kosmetika im nahen Ausland ausgeben?», fragt der Tagi-Kommentator. «Oder dass wir hierzulande 20 Milliarden Franken mehr für die gleichen Produkte zahlen?»
Der Einkaufstourismus der Schweiz über die Grenze könne mit der Republikflucht aus der ehemaligen DDR verglichen werden. «Die unzufriedenen Bürger stimmten mit den Füssen ab und machten rüber. Heute stimmen die Schweizer Konsumenten mit ihren Autos ab und fahren zum Einkauf nach Deutschland. Immerhin kommen sie abends wieder zurück.»
Der Abbruch der Gesetzesrevision sei sinnvoll, glaubt dagegen die Neue Zürcher Zeitung, sei diese doch «stark durch Interventionslust und den Kampf gegen die ‹Hochpreisinsel› dominiert» gewesen: «Mit dem Beschluss, nichts zu tun, hat die grosse Kammer der Gesellschaft und der Wirtschaft wahrscheinlich viel Gutes getan.»
Wenn man die Spesen «mit dem Schaden, den die neuen Spielregeln möglicherweise hätten anrichten können» vergleiche, machten diese nicht viel aus. «Die Geister des hektischen Eingreifens, die mit der Revision auf breiter Front geweckt worden wären, hätten zu Einengungen und Belastungen der Unternehmen sowie Bevormundungen der Konsumenten geführt, die viel schlimmer gewesen wären als die Mängel, die im heute geltenden Gesetz stecken.»
«Status Quo ist vorzuziehen»
Für La Liberté wie auch für L’Express und L’Impartial wurden «vier Jahre in den Kehricht geworfen». Mit einer Bastelei habe man am Ende versucht, die Revision zu retten, doch der Kompromiss hätte keinen Vorteil gebracht.
«Für die Unternehmen wie auch die Konsumenten ist der Status Quo, wenn er auch nicht ideal ist, vorzuziehen», schreibt L’Agefi. Das Nein des Nationalrats zu einem «von vielen als überflüssig und schädlich bezeichneten Textes» habe immerhin einen ersten Verdienst: «Man hat verhindert, jahrelang darüber zu diskutieren, bis es zu einem endgültigen Entscheid gekommen wäre.»
«Zu viele Probleme wollten Volkswirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann, der Ständerat sowie die vorberatende Nationalratskommission auf einmal lösen», ist auch die Berner Zeitung überzeugt. «Das konnte nicht gut gehen».
Der Absturz der Vorlage widerspiegle zwei Tendenzen, die gegenwärtig in der Schweizer Politik festzustellen seien. «Zum einen ist Abschottung gegen das Ausland wieder ‹in›. Zum anderen ist im Parlament seit einiger Zeit ein schwindender Wille festzustellen, Probleme pragmatisch zu lösen.»
Da das Kartellgesetz alle Konsumente direkt betreffe, sei für diese entscheidend, dass die Schweiz keine Hochpreisinsel bleibe. «Immer noch verlangen gewisse gewichtige ausländische Markenartikler von den Schweizer Detailhändlern höhere Preise als im Ausland. Das neue Parlament wird wohl nicht darum herumkommen, sich nach den Wahlen erneut mit dem Dossier zu befassen.»
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