Die Schweiz ist in Brüssel wieder auf der Agenda
Es ist das grosse Paradoxon am Ende der Verhandlungen über das Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union: Deren Scheitern hat die Beziehung Schweiz – EU wieder auf die Agenda gebracht. Insbesondere auf jene einiger europäischer Staats- und Regierungschefs.
Am Donnerstag, 24. Juni, warf Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz zu Beginn eines europäischen Gipfels einen Rettungsring aus, was er selten genug tut. Er galt der Schweiz.
Kurz begann so: «Es hat in der Schweiz eine Ablehnung zu einem Rahmenabkommen gegeben, das ist bedauerlich. Leider Gottes ist aus meiner Sicht darauf nicht zu 100 Prozent richtig reagiert worden, da es manche gibt, die sich wünschen würden, dass die Beziehungen zur Schweiz jetzt loser werden, dass man bilaterale Verträge auslaufen lässt und dass man sich vielleicht sozusagen bei der Schweiz revanchiert für die Ablehnung des Rahmenabkommens. Davon halten wir rein gar nichts. Die Schweiz ist ein wirtschaftlich extrem erfolgreiches Land. Die Schweiz ist ein Top-Standort für Forschung und Entwicklung und die Schweiz ist für uns ein wichtiger Nachbar und Partner.»
Er wünsche sich eine enge Kooperation mit der Schweiz, auch wenn das Rahmenabkommen abgelehnt wurde, so Kurz weiter, darum werde er einfordern, dass es eine strategische Debatte zur Schweiz gebe. «Wir müssen uns als Europäische Union strategisch damit beschäftigen. Nicht aus einer Emotion heraus reagieren in eine Richtung die vielleicht am Ende des Tages für alle negativ ist. Was haben wir davon wenn wir die Kooperation mit den besten Forschungsanstalten der Welt einschränken? So ehrlich muss man sein: Uns würde es genauso schaden.»
Am Freitagmorgen, am zweiten Tag des Gipfels, wandte sich der österreichische Bundeskanzler deshalb kurz an seine Amtskollegen. «Es wäre gut, wenn wir bei einem unserer nächsten Treffen die Situation mit der Schweiz ansprechen könnten, die für niemanden gut ist. Wir können uns nicht damit zufrieden geben, dieses Thema nur auf technischer Ebene zu behandeln», sagte er. Charles Michel, der Präsident des Rates, sagte, dass er es «zur Kenntnis genommen habe», so ein Zeuge.
Kontakte zwischen Parmelin und Macron
In Brüssel sagt eine gut unterrichtete Quelle: «Es gibt eine Zusammenarbeit zwischen den Nachbarländern». Zu hören ist auch: «Emmanuel Macron hat in den letzten Wochen mehrmals mit dem Schweizer Bundespräsidenten Guy Parmelin gesprochen. Er verfolgt sehr aufmerksam, was in der Schweiz passiert.»
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Die Schweiz pokert hoch mit der EU
Am Tag vor dem Gipfel hielt das Europäische Parlament eine kurze Debatte zum Thema ab. Ein gutes Dutzend Abgeordnete meldete sich zu Wort. Die meisten bedauerten die Entscheidung des Bundesrates, der das Handtuch geworfen hatte. «Wir verstehen den Grund nicht, und die Schweizer verstehen ihn auch nicht. Ich hoffe, dass der Bundesrat an den Verhandlungstisch zurückkehrt. Die EU ist immer offen dafür», sagte Andreas Schwab, Europaabgeordneter der deutschen CDU und Vorsitzender der Delegation des Europäischen Parlaments für die Schweiz.
«Wir sollten auf unsere Fehler schauen»
«Unsere Tür ist immer offen», sagt auch der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold. Die deutsche Sozialdemokratin Evelyne Gebhardt ergänzte: «Wir sollten der Schweiz nicht nur ein schlechtes Gewissen machen, sondern auch auf unsere Fehler schauen. Ich bin erstaunt über die Härte der EU, während die Schweiz gute Arbeitsschutzgesetze hat.»
«Emmanuel Macron hat in den letzten Wochen mehrmals mit dem Schweizer Bundespräsidenten Guy Parmelin gesprochen. Er verfolgt das sehr aufmerksam.»
Brüsseller Quelle
Am 22. Juni trafen sich die siebenundzwanzig Aussen- und Europaminister aufgrund der Pandemie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder persönlich zu einer Sitzung des Allgemeinen Rats. Es war eine Gelegenheit, sich ein paar Minuten Zeit zu nehmen, um die Beziehung zur Schweiz zu reflektieren.
Und für einige Minister war es Gelegenheit, um an die Bedeutung, insbesondere die wirtschaftliche Dimension dieser Verbindung zu erinnern. Das überrascht einen Schweizer Gesprächspartner nicht: «Täglich pendeln Hunderttausende von Grenzgängern, während eine Milliarde Franken zwischen uns und der EU ausgetauscht werden. Dies ist eine Tatsache. Nicht zu übersehen.»
Ein Chefunterhändler?
Die Europäische Kommission fährt nach wie vor eine harte Linie gegen Bern, wie die Entscheidung zum Ausschluss der Schweiz aus dem Forschungsprogramm Horizon zeigt. Einige Vertreter von Mitgliedsstaaten fragen sich jedoch, ob die Dinge anders gelaufen wären, wenn sich Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen früher in die Verhandlungen eingeschaltet hätte. Wenn sie den Gesprächen einen starken politischen Impuls gegeben hätte, anstatt Guy Parmelin ganz am Ende des Prozesses zu empfangen, kurz vor der Sackgasse.
Eine andere Frage in Brüssel lautet: Hätten nicht die Mitgliedstaaten selbst den Prozess genauer verfolgen sollen, anstatt die gesamte Akte in den Händen der Kommission zu lassen? Daher der jüngste Vorschlag aus den Niederlanden, einen europäischen Chefunterhändler zu ernennen, nach dem Vorbild von Michel Barnier, der für den Brexit zuständig war.
Der Vizepräsident der Europäischen Kommission, Maros Sefcovic, der am 22. Juni bei der Sitzung des Allgemeinen Ratgs anwesend war, hielt es für «notwendig, eine lange Pause einzulegen». Sie sollte unter anderem dazu dienen, die künftige Entwicklung der bilateralen sektoralen Abkommen vollständig zu prüfen. Sie auf mehr oder weniger lange Sicht zum Ablaufen verurteilt, weil das Rahmenabkommen fehlt. Auch Bern braucht seinerseits eine Verschnaufpause. Das neue Schuljahr beginnt früh genug…
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