Die Schweiz als Ausschluss-Demokratie
Katholiken, Juden, Atheisten und andere "Gottlose", Arme, Raufer, Straftäter, Herumtreiber, Zwangsversorgte – die Liste ist noch länger: In der jungen Demokratie Schweiz des 19. Jahrhunderts waren neben den Frauen ganze konfessionelle Gruppen und viele sozial Schwache ausgeschlossen. Ihre Integration dauerte Generationen.
Seit der Gründung des modernen Bundesstaats 1848 wird der Kreis der Stimmberechtigten in der Schweiz stetig grösser.
Aber dem stand lange einiges im Wege: Mit hoher Energie und eiskaltem Kalkül verweigerten zu Beginn die bürgerlichen Machteliten beim Bund und in den Kantonen ihren politischen Gegnern das Stimm- und Wahlrecht. Die Integration von zahlreichen ausgeschlossenen Gruppen verschleppten sie mit einiger Kreativität und viel Ausdauer.
Den Klassenfeind im Visier
Der Ausschluss zielte auf die Katholisch-Konservativen und auf die armen Schlucker. Mit letzteren zielten die Bürgerlichen auf die Sozialdemokratische Partei (SP), die 1888 gegründet wurde und die Interessen der Arbeiterschaft bündelte und auf die politische Bühne brachte.
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Bekannt ist: Beim Start der modernen Schweiz waren nur Schweizer Männer ab 20 Jahren wahl- und stimmberechtigt. Die Frauen, also die Hälfte der Bevölkerung, waren draussen.
Effektiv stimmberechtigt waren aber nur 23%. Die Schweiz war beim Start also höchstens eine «Viertel-Demokratie». Wo war der Rest? Wo war die andere Hälfte der Männer?
Laut Verfassung gab es zwei Tickets zum Stimmrecht auf Bundesebene: die Niederlassungsfreiheit und das Entrichten von Steuern. Damit blieben draussen: die Juden, die bis 1866 nur in zwei Gemeinden leben durften. Und die Armen, die keine Steuern zahlen konnten – es war ein veritabler Steuerzensus.
Schalten und walten der Kantone
In der föderalen Schweiz liegt die Hoheit über die Wahlgesetze aber nicht beim Bund, sondern bei den Kantonen. Und diese nutzten den Hebel willkürlich nach ihrem Gusto. Sie stellten lange Listen auf mit all jenen, die vom Stimm- und Wahlrecht gestrichen waren.
Zu den Gruppen – die Bezeichnungen stammen aus dem Amtsdeutsch der damaligen Zeit – gehörten neben den Armengenössigen auch Bankrotteure und Gepfändete, verurteilte Straftäter, Zwangsversorgte, Geisteskranke und Geistesschwache und Sittenlose. Auch Aufenthalter hatten keine Stimme – Männer aus anderen Kantonen, also Schweizer Binnen-Migranten.
Wieso die «Erbschafts-Verweigerer»?
Aber auch das war einigen Kantonen noch nicht genug. In den Kantonen Bern, Schwyz, Freiburg, Solothurn und Aargau waren Männer mit Wirtshausverbot ausgesperrt, also Rauf- und Trunkenbolde sowie Zechpreller. In Genf und Neuenburg Söldner. In Solothurn Bettler und Landstreicher. Im Tessin Wahlbetrüger – diesbezüglich gab es dort offenbar ein Problem.
«Hätten nicht die Männer via die Volksrechte über die Ausweitung des Stimmrechts beschliessen können, sondern Regierung und Parlament, wäre das Frauenstimmrecht in der Schweiz viel früher Tatsache geworden», sagt Adrian Vatter, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bern.
Seine Erklärung: «Was die Aufnahme von neuen Gruppen ins Stimmrecht betrifft, haben wir das Paradox, dass direkte Demokratie Ausschluss und verlangsamte Integration bedeuten, repräsentative Demokratie dagegen beschleunigte Prozesse.»
Etwas lockerer formuliert: Beim urdemokratischen Geschäft der Integration ist die repräsentative Demokratie demokratischer als die urdemokratische direkte Demokratie.
Der katholische Halbkanton Appenzell Innerrhoden schloss gar Männer «ohne genügenden Religionsunterricht» aus. Damit schufen die dortigen hohen Herren ein unbarmherziges Fallbeil für Sünder oder Gottlose. Oder für sonst jeden Missliebigen, den sie weghaben wollten.
Und im Wallis durfte nicht mitreden, wer eine Erbschaft ausschlug. Dabei ging es um folgendes: Wer im armen Bergkanton nicht für die Schulden des Vaters gerade stehen wollte oder konnte, büsste mit dem Verlust des Stimm- und Wahlrechts. Damit blieb dieses Bessergestellten und Besitzenden vorbehalten.
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Die Schweiz – eine Zweiklassen-Demokratie
Ob dieser Exklusionspraktiken platzte dem Bund aber bald einmal der Kragen. In der totalrevidierten Bundesverfassung, 1874 angenommen, riss Bern den Kantonen das Heft aus den Händen, was den Ausschluss betraf. Doch der Verfassungsbuchstabe musste erst mal umgesetzt werden. Und hier erwuchs Widerstand. Nicht weniger als drei Mal – 1875, 1877 und 1882 – versenkte das Parlament die entsprechenden Gesetze.
Der dreifache Zensus, der konfessionelle, der soziale und der Geschlechterzensus, blieben teils bis weit ins 20. Jahrhundert. 1915 erklärte das Bundesgericht den Steuerzensus für verfassungswidrig, schützte dagegen den Ausschluss infolge Armengenössigkeit. Erst 1971 durften Verurteilte und Schuldner, die das eigene Vermögen leichtfertig verloren hatten, etwa durch Alkoholismus, abstimmen und wählen.
123 Jahre für drei Etappen
Der Paradigmenwechsel vom Ausschluss hin zur Integration war 1874 aber eingeläutet worden.
Ab da folgt eine Entwicklung, die laut dem Berner Politologen Adrian Vatter nach bestimmten Mustern ablief. «Es gab einen fortlaufenden Integrationsprozess, der einerseits parallel zum Ausbau der Institutionen zur Teilung der Macht verlief, andererseits entlang der sozialen Brüche am Ende des 19. Jahrhunderts.»
Der Professor an der Universität Bern hält drei Etappen für entscheidend: Erstens die Einführung der Volksrechte, also Referendum (1874) und Volksinitiative (1891). «Mit ihnen wurden die konfessionellen Gruppen vermehrt eingebunden, insbesondere die Katholisch-Konservativen.»
1919 sei zweitens die Integration der Arbeiterschaft und der Sozialdemokratischen Partei erfolgt – dies mit der Einführung des Proporzwahlrechts.
Wie gewieft ist denn das?! Da gründen die Freisinnigen ihre Demokratie Schweiz und unternehmen dann fast alles, um politische Gegner und Missliebige von der Machtteilung auszuschliessen. Mit dem höchst zweifelhaften Ziel, die Macht eben gerade nicht teilen zu müssen. Es ist dies ein bis heute unterschätztes politisches «Kunststück» der radikalen Pioniere der Demokratie Schweiz.
Mit diesem Zweihänder schlugen sie zwei Fliegen auf einen Streich: Über den konfessionellen Exit banden sie die Katholisch-Konservativen zurück, die Erzfeinde des neuen Bundesstaats. Über den sozialen Exit drückten sie «das Armenhaus» der Schweiz aus dem Ring – und damit die Klientel der Sozialdemokraten.
1971 sei schliesslich mit den Frauen die dritte Gruppe gefolgt. «Alle Integrationsprozesse gingen jeweils mit einem Emanzipationsprozess einher», so Vatter. 1977 folgte die Aufnahme der Auslandschweizerinnen und -schweizer ins Stimm- und Wahlrecht, 1991 dann die 18- bis 20-Jährigen.
Männerdemokratie als Revolution
Wie fällt die Integrationsleistung der Demokratie Schweiz in Vatters Urteil aus? Er verweist erst einmal auf den zeitlichen Kontext. Und da hebt er die Wahl der Genfer Kantonsregierung 1847 durch die stimmberechtigten Männer hervor: Dass ein Volk seine Regierung wählt, ist heute selbstverständlich. Aber: «Das war eine europäische Premiere.»
Ab 1848 war die Schweiz laut Vatter in Europa die erste Männer-Demokratie, umgeben von lauter autoritären und monarchistischen Regimen. «Da ist es schon ein grosser Schritt, wenn schon nur knapp ein Viertel der Bevölkerung das Wahl- und Stimmrecht erhält.» Deshalb markiere die Männerwahl den Startschuss zum langen Weg der Demokratisierung der Demokratie Schweiz.
Die rote Linie
Aus heutiger Sicht betrachtet fällt seine Beurteilung dagegen ambivalent aus. «Einerseits gilt die Schweiz als paradigmatischer Fall der politischen Integration. Angesichts ihrer Vielfalt an Kulturen und ihrer diversen Gesellschaft ist es ihr gelungen, diverse Minderheiten zu integrieren.»
Doch er relativiert: «Diese Integrationsleistung ist streng auf Gruppen aus den eigenen Kreisen beschränkt, also solche, die dieselben Sprachen sprechen und die eigenen Konfessionen haben.»
Die rote Linie zieht Vatter bei ausländischen Bevölkerungsgruppen mit anderen Sprachen und grundlegend anderen Wertvorstellungen, den Fremdgruppen. «Deshalb hat das Ausländerstimmrecht in der Schweiz auf nationaler Ebene keine Chance. Im vereinten Europa dagegen ist das Ausländerstimmrecht Standard, zumindest auf kommunaler Ebene.»
Einzige Chance: die Kantone
Als einzige Hebel zu Veränderungen sieht er die Einführung des Ausländerstimmrechts via Totalrevision von Kantonsverfassungen. Erst wenn sich «von unten» genügend Druck entwickle, habe das kommunale Ausländerstimmrecht in einer nationalen Abstimmung überhaupt Chancen.
Dafür scheint die Zeit aber nicht reif. Da haben die Jungen bessere Karten, eine weitere Gruppe von noch immer Ausgeschlossenen: Beflügelt durch die Klimastreiks und den historischen Erfolg der Grünen bei der «Klimawahl» 2019 ins Schweizer Parlament, fordert ein Teil des Nachwuchses die Senkung des Stimmrechtsalters von 18 auf 16 Jahre.
Ihre Chancen stehen besser: Sie sind eine «In-Group» – sie sprechen die richtigen Sprachen und haben den richtigen Pass im Sack.
Auf nationaler Ebene führt der einzige Weg zum Stimm- und Wahlrecht über die Einbürgerung. Doch für Ausländerinnen und Ausländer sind die Hürden auf dem Weg zum roten Pass hoch: Der Prozess ist langwierig, kostet Geld und ist oft mit Willkür verbunden. Denn es sind die Gemeinden, die über die Erteilung des Bürgerrechts entscheiden.
In fünf Kantonen, vorwiegend solche in der Westschweiz, können Nicht-Schweizer wählen und abstimmen. Dies aber nur auf kantonaler und kommunaler Ebene. Das Ausländerstimmrecht kennen zudem rund 600 der insgesamt 2202 Gemeinden der Schweiz.
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