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Schweiz-EU: «Die Stunde der Wahrheit naht»

Obwohl das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU noch nie so angespannt war wie derzeit, glaubt die Nebs an einen Beitritt. Keystone

Mit der Eurokrise hat die EU-Skepsis im Nicht-Mitgliedsland Schweiz zugenommen. Und das Ja des Schweizer Stimmvolks vom 9. Februar zur "Masseneinwanderungs-Initiative" setzt sogar die bilateralen Verträge aufs Spiel. Ist ein EU-Beitritt damit endgültig vom Tisch? Im Gegenteil, sagen die neuen Co-Präsidenten der pro-europäischen Bewegung Nebs.

Vor 13 Jahren – ein knappes Jahr, nachdem das Schweizer Stimmvolk die bilateralen Verträge mit der EU genehmigt hatte – schmetterte der Souverän eine Initiative der pro-europäischen Organisationen für sofortige Beitrittsverhandlungen mit der EU ab. Seither ist das Thema EU-Mitgliedschaft von der politischen Agenda verschwunden, und um die Neue Europäische Bewegung Schweiz (Nebs) ist es still geworden.

Für ein paar Schlagzeilen sorgte im Mai der Wechsel an der Spitze der Organisation. Nach dem Rücktritt von Christa Markwalder von der Freisinnigen Partei (FDP. Die Liberalen) wird die Nebs nun vom Deutschschweizer Martin Naef und vom Westschweizer François Cherix geleitet. Die neuen Co-Präsidenten gehören beide der Sozialdemokratischen Partei (SP) an.

Keystone

swissinfo.ch: Teilen Sie sich das Präsidium, um nicht allein auf verlorenem Posten zu sein?

Martin Naef: Der Posten ist nicht verloren, im Gegenteil. Mit dem Co-Präsidium decken wir zwei Sprachregionen ab. Es ist eine gute Gelegenheit, den europäischen Gedanken in der Schweiz zu verankern.

swissinfo.ch: Weit und breit gibt es keine Hinweise, dass sich in der Schweiz eine Mehrheit für einen Beitritt zur EU entschliessen könnte.

François Cherix.: Die Schweiz steuert auf die Stunde der Wahrheit zu. Wir werden demnächst vor der Frage stehen ‹Isolation oder Beitritt›. Angesichts dieser Perspektive bezweifle ich, ob sich die Schweizer für die Isolation entscheiden werden.

Am 9. Februar 2014 hat das Schweizer Stimmvolk die Initiative der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) «Gegen Masseneinwanderung» mit einer sehr knappen Mehrheit angenommen. Deshalb ist die Schweiz nun auf Kollisionskurs mit der EU. Die Festlegung von Kontingenten, welche die Initiative vorsieht, verstösst gegen das Personenfreizügigkeits-Abkommen. 

Am 20. Juni hat der Bundesrat (Regierung) ein Konzept zur Umsetzung der Initiative präsentiert. Dieses sieht, wie vom neuen Verfassungsartikel gefordert, die Beschränkung der Zuwanderung vor. Dazu sollen ab Februar 2017 wieder Ausländerkontingente eingeführt werden.

Unter diese sollen alle Bewilligungen über vier Monate Dauer fallen, auch jene für Grenzgänger. Die Grösse des Kontingents soll jährlich vom Bundesrat festgelegt werden. Dabei stützt er sich auf den Bedarf der Kantone, er will aber auch die Empfehlungen eines Expertengremiums berücksichtigen. Auf ein fixes Reduktionsziel verzichtet der Bundesrat.

Einschränkungen des Familiennachzugs lehnt er ab.

Im Asylbereich will er den neuen Verfassungsartikel vereinbar mit den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts umsetzen.

Da eine Einschränkung der Zuwanderung nicht mit dem geltenden Freizügigkeitsabkommen mit der EU vereinbar ist, will der Bundesrat dieses neu verhandeln. Dies schreibt auch der neue Verfassungsartikel vor.

Bis im Herbst soll ein Verhandlungsmandat vorliegen.

Ein Gesetzesentwurf zur Umsetzung der am Freitag präsentierten Eckwerte soll bis Ende Jahr vorliegen.

(Quelle: sda)

swissinfo.ch: Abgesehen von der Linken – SP und Grüne – wird ein EU-Beitritt von keiner grossen Partei unterstützt. Um zu gewinnen, braucht man Mehrheiten, also zumindest auch Stimmen in der Mitte des politischen Spektrums.

M.N.: Am 9. Februar [als die Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung von einer knappen Mehrheit angenommen wurde, N.d.R.] haben wir eine Zäsur erlebt. Ich hoffe, dass die Wirtschaft und auch Bürgerliche gemerkt haben, dass es jetzt einen Schulterschluss aller konstruktiven Kräfte gegen die Isolation braucht.

swissinfo.ch: Seit dem 9. Februar stehen sogar die bilateralen Verträge auf dem Spiel. Wäre es nicht pragmatischer, sich auf diesen Weg zu konzentrieren, anstatt das utopische Ziel eines EU-Beitritts anzustreben?

M.N.: Wir halten es für richtig, dass die Schweiz in Europa eines Tages über Dinge mitbestimmen dürfte, von denen sie selber auch betroffen ist. Die Nebs hat aber zielführende Lösungen in einem verlässlichen Verhältnis zur EU immer mitgetragen.

F.C.: Der Beweis dafür, dass das Ziel der Nebs nicht utopisch ist: Nach dem 9. Februar haben wir 400 neue Mitglieder bekommen. Angesichts der Grösse unserer Bewegung ist das ausgesprochen spektakulär.

swissinfo.ch: 1992 haben Sie nach dem Nein des Stimmvolks zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) eine Katastrophe für die Schweiz vorausgesagt. Heute steht die Schweiz im Vergleich zur EU aber doch eher besser da?

F.C.: Was wir vorausgesagt haben, ist eingetroffen: Das Wachstum hat in der Schweiz während zehn Jahren stagniert oder ging zweitweise sogar zurück. Es war geringer als jenes der Nachbarländer.

Erst die bilateralen Verträge I und II haben es der Schweiz ermöglicht, die Folgen des Neins zum EWR zu kompensieren und ausgesprochen positiv in den europäischen Wirtschaftsraum zurückzufinden. Man hatte mit Nachbessern zwar eine Lösung gefunden, aber die Situation war prekär.

Die Nebs hat immer gesagt, dass die Situation für die Schweiz mit den bilateralen Verträgen fragil, gefährlich, nicht dauerhaft sei und eines Tages neue Diskussionen erforderlich würden. Heute sind wir genau dort angekommen.

Die Situation ist schlimmer als 1992, weil die Schweiz jene Verträge gebrochen oder angegriffen hat, die sie selber verlangt hatte und in die sie bereits integriert war.

M.N.: Die Isolation ist keine Option für unser Land. Dass es der Schweiz gut geht, liegt nicht daran, dass wir keine Beziehungen zu Europa haben, sondern weil wir mit den bilateralen Verträgen verlässliche Beziehungen zu den anderen Ländern der EU haben. Wenn es Europa gut geht, geht es auch der Schweiz gut.

Mit der Wahl eines Co-Präsidiums, bestehend aus dem Zürcher SP-Nationalrat Martin Naef und dem früheren Waadtländer SP-Kantonsrat François Cherix, liegt die strategische Führung der Nebs erstmals in sozialdemokratischen Händen.

Zuvor waren es stets freisinnige Politiker gewesen, die der pro-europäischen Organisation in der Schweiz ein Gesicht gaben, unter anderen der spätere Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz, der die 1934 gegründete Europa-Union, die Vorgängerorganisation der Nebs, ab 1981 drei Jahre lang präsidierte.

Die Nebs wurde 1998 aus der Fusion unterschiedlicher pro-europäischer Gruppierungen («Geboren am 7. Dezember», «Geboren 1848» und der «Europäischen Bewegung Schweiz EBS») gegründet. 2001, nach der Ablehnung der Initiative für einen EU-Beitritt, schloss sich auch «Renaissance Suisse-Europe» der Nebs an.

Ziel der Nebs ist der Beitritt der Schweiz zur EU «unter möglichst günstigen Bedingungen, um das europäische Stimmrecht zu erhalten».

Die Organisation hat heute rund 3400 Mitglieder.

swissinfo.ch: Die Skepsis gegenüber der EU hat nicht nur in der Schweiz, sondern auch in den Mitglied-Staaten zugenommen…

M.N.: …man kann an der EU vieles kritisieren: die Institutionen, die Gewaltenteilung, mangelnde demokratische oder parlamentarische Mitbestimmung.

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Die Schweiz hätte in der EU etwa das gleiche bevölkerungsmässige Gewicht wie der Kanton Neuenburg in der Schweiz. Nun käme es den Neuenburgern ja nie in den Sinn zu sagen, uns passt die nationale Politik nicht, deshalb machen wir mit den anderen Kantonen nur noch eine Zollunion, aber mitbestimmen wollen wir nicht mehr. Das wäre absurd. Die Schweiz ist ohnehin ein Teil Europas.

Den Verzicht auf Mitbestimmung, aber trotzdem betroffen zu sein, finde ich undemokratisch und unwürdig für ein souveränes Land.

swissinfo.ch: Sie sind beide Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, die oft von Volksinitiativen und Referenden Gebrauch macht. Wie sehen Sie die Schweiz in einer EU, die dem Volk keine direktdemokratischen Instrumente einräumt?

M.N.: In Sachen Demokratie, Bürgerbeteiligung oder Subsidiarität besteht in der EU Handlungsbedarf, und das haben viele Leute in Brüssel auch gemerkt. Jean-Claude Juncker hat kürzlich zugegeben, dass man vergessen habe, die Leute mitzunehmen. Und Martin Schulz hat sehr treffend gesagt, dass sich die EU nicht darum kümmern müsse, ob die Olivenölflaschen auf den Restauranttischen offen oder verschlossen sein müssen. Auch in diesem Bereich könnte die Schweiz einiges einbringen.

Aber man darf auch nicht Angst haben, dass das [Instrument der direkten Demokratie] mit der EU völlig unvereinbar wäre. Wenn wir vor 20 Jahren dem EWR beigetreten wären, hätte es zweimal ein Problem mit unserer direkten Demokratie geben können. Es war zweimal ausgerechnet bei linken Anliegen der Fall, nämlich bei der Alpenschutz-Initiative und beim Gentech-Moratorium.

F.C.: Man muss aufhören zu meinen, dass die EU ein Staat sei. Sie ist eine Art internationale Rechtskörperschaft und eine nicht vollständig definierte Vereinigung von Staaten, die eine massgebende Rolle spielen.

swissinfo.ch: Zurück zum Verhältnis der Schweiz zur EU: Ist eine Volksinitiative für einen Beitritt für Sie also in weite Ferne gerückt?

F.C.: Man muss sich den Beitritt nicht als einen Entscheid vorstellen, der auf einen Schlag gefällt wird. Es ist ein Prozess in Etappen, bei denen es jeweils Wahlmöglichkeiten gibt. Dabei ist die Überzeugungsarbeit und die Schaffung einer Mehrheit total verschieden. Ich glaube nicht, dass die Stimmbürger aus einem enormen Verlangen, aus einer Art Projektion in eine strahlende Zukunft heraus der EU beitreten werden.

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swissinfo.ch: Aber die Mitbestimmung in der EU, die Sie erwähnt haben, ist eher illusorisch. Sind es nicht immer die stärksten Volkswirtschaften, die den anderen Staaten ihren Willen und ihre Politik aufdrängen?

F.C.: Die Aussage, dass Europa ein von den Grossen dominierter Monoblock sei, ist von der Realität total widerlegt worden. Derzeit zum Beispiel läuft ein sehr komplexes Stück über die künftige Kommissions-Präsidentschaft, in dem man auch als kleiner Staat eine sehr interessante Partitur spielen kann, weil es Allianzen, Diplomatie, Gleichgewichte mit variablen Geometrien gibt. Und wir Schweizer sind die Könige in dieser Disziplin. Wir würden uns nicht nur wohl fühlen, sondern auch sehr gut sein.

swissinfo.ch: Sie sagen, es brauche viel Zeit bis sich die Schweizer für einen EU-Beitritt entscheiden würden. Haben Sie einen konkreten Zeitplan?

M.N.: Wir wollen nicht missionieren. Wir haben niemanden, der – wie alt Nationalrat Christoph Blocher – sagen kann, ich gebe fünf Millionen aus für eine Kampftruppe. Aber wir haben eine differenziertere Argumentation, als einfach zu sagen «Ausländer raus», «Nein zur EU», «Steuern runter». Sowas lässt sich leicht verkaufen, aber Diskussionen, wie wir sie hier führen, finde ich interessanter und auch zielführender.

F.C.: Es gibt verschiedene Agenden: jene der Bewusstseinsbildung, die sich in der Tiefe abspielt, ohne sichtbar zu werden, und die politischen Agenden, denen man sich anpasst und die ein Thema plötzlich vorwärts bringen oder zurückwerfen.

Ein Beispiel der Unsicherheit, von der die Schweiz plötzlich betroffen war, ist das Bankgeheimnis. Im Inland wurde behauptet, dass dieses mit der Unterscheidung zwischen Steuerhinterziehung und Steuerbetrug noch tausend Jahre Bestand haben werde. Aber eines Tages hat sich die Situation grundlegend geändert. Mit diesen Agenden arbeiten wir: ein humanistischer Zugang für ein politisches Geschäft.

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