Die EU zeigt ihr neues Gesicht
Die Schweiz steht einer neuen Europäischen Union gegenüber. Es ist nicht mehr der Bürokraten-Apparat, der vorwiegend mit sich selbst beschäftigt ist. Auf die neue Brüsseler Beweglichkeit muss sich das Alpenland aber erst noch einstellen.
Aussenpolitik ist auch Innenpolitik. Das gilt besonders in der EU.
Der Entscheid der Europäischen Union, die Schweizer Börse nur für ein Jahr zum Handel zuzulassen, hat viel mit dem Zustand der EU zu tun. Der Regierungschef der EU, Jean-Claude Juncker, weiss wohl: Will er diese Union zusammenhalten, braucht er mehr als eine Währung. Er braucht Wille.
Juncker ist gerade daran, das Projekt Europa umzuformen – in dem bisher viele mitmachten, weil sie ihren eigenen Vorteil vor Augen hatten – zu einer Willensnation: Wer dabei ist, soll sich allen Werten der EU verpflichten. Diesen Tarif hat die EU-Kommission diese Woche Polen erklärt. Es war ein historisch harter Schritt.
Ähnliche Strenge zeigte Juncker gerade erst gegenüber dem scheidenden Grossbritannien. «Sie müssen bezahlen», sagte er vor einer Woche in Brüssel. Das ist die neue Tonalität, wenn Juncker auszieht, um 45 Milliarden Euro von London nach Brüssel zu holen.
Und nun trifft es also die Schweiz.
Scheiden tut weh, das ist Junckers Botschaft nach innen, an alle, die in Europa wieder mit dem Nationalismus liebäugeln, und das sind viele.
Das Volk macht es der Schweiz nicht leicht
Innenpolitik ist auch Aussenpolitik. Das gilt besonders für die Schweiz.
Es gibt hier einen Bundesrat und ein diplomatisches Korps, die seit Jahren mit einem ansehnlichen Schuss Pragmatik in Brüssel gute Absichten bekunden und zuhause jedes Zunicken der EU als Erfolg verkaufen, als Zeichen dafür, dass mit Brüssel zu reden sei – und zwar auf Augenhöhe.
Dann aber gibt es ein Volk. Es setzte die Schweiz im Umgang mit der EU von Geburt an schachmatt, wie die Resultate der EWR-Abstimmung von 1992 (50,3% Nein) und der Masseneinwanderungs-Initiative von 2014 (50,3% Ja) zeigen. Jeweils zur Hälfte ist die Schweizer Bevölkerung für mehr Kooperation mit Europa oder dagegen, für eine härtere Gangart mit Brüssel oder eine weichere.
Kann eine Regierung, wenn sie einem solcherart ausgeprägten Volkskörper verpflichtet ist, nach aussen glaubwürdig Interessenpolitik betreiben?
Nicht grösser als ein Wicht
Landesregierung und Parlament waren auch darum oft froh, dass die Europäische Union solange mit sich selbst beschäftigt war, mit Griechenland, Flüchtlingen und Brexit. Nach der Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative vor vier Jahren gab es aus Brüssel eine einzige Ansage, auf die man sich stets verlassen konnte: «Wir haben gerade andere Prioritäten.»
Solange die EU an ihren vielen Fronten kämpfte, war hierzulande Ruhe, wenn auch gespannte. Man horchte des Riesen Atem und rief Gelehrte, meist Europarechts-Professoren, diesen zu deuten. Im Vergleich zur Wirtschaftsmacht EU ist die stolze Schweiz eben nur ein Wicht. Das Bruttoinlandprodukt der EU ist 26 Mal grösser als jenes der Schweiz. Wäre das Staatengefüge ein Mensch, hätte die Schweiz die Länge seines Zeigefingers.
Die Zeit arbeitet für die Mächtigen
Aber nie hat ein Schweizer Regierungsmitglied den Mut gehabt, offen auszusprechen, was Wahrheit ist: Dass die Zeit für den Mächtigen arbeitet, also für die EU. Alle Hinweise darauf erfolgten klein und verschämt. Es hätte ohnehin nur die Schweizerische Volkspartei (SVP) darauf gelauert, die allein dank ihrer Ablehnung von allem Europäischen zur grössten Partei des Landes werden konnte, auf Kosten aller andern.
Politisch betrachtet konnte man die EU – gerade aus der direkten Demokratie Schweiz heraus – lange belächeln, manchmal auch bemitleiden. Wer vor zehn Jahren an die EU dachte, assoziierte allenfalls Bürokratie und Behäbigkeit. Die Union war mit der Schaffung ihrer selbst beschäftigt und richtete sich gegen innen.
Agil und selbstbewusst
Jetzt ist die Zentralisierung erfolgt, und es zeigt sich ihr Vorteil: Aussenpolitisch straff geführt, ist dieses Staatengebilde verblüffend agil geworden, und selbstbewusst genug, eine Schweizer Milliarde und 300 Millionen Franken in den Wind zu schlagen.
Die Schweizer Kohäsionsmilliarde entspricht 0,4% des Betrags, den die EU für die Rettung Griechenlands gestemmt hat (300 Milliarden Franken) und 0,3% des Betrags, den die EU selbst in die Osthilfe investiert (Es sind 410 Milliarden Franken, wie der EU Botschafter Michael Matthiessen diese Woche Radio SRF erklärte).
Die Krisen waren das Stahlbad der EU
Ein Handelskrieg mit den USA, Steuerverfolgungsjagden mit global agierenden Multis und der ständige Kampf um das Gleichgewicht im Innern, all das hat der EU offensichtlich nicht geschadet. Wenn es in den Ländern bröckelte, ausfranste oder wenn Rettungsschirme gereicht werden mussten – jedes Mal hat das Bündnis dazugelernt. So wurde es schlanker, schlauer und selbstbewusster. Die ausgestandenen Krisen erweisen sich für die EU in der Nachbetrachtung als Stahlbad.
Im Denken der Wegzölle geblieben
Als die Europäische Union sich formte, befand sich die Schweiz noch in der Phase der Wegzölle. Der Alpentransit war durch alle Zeiten stets das beste Pfand des Landes im Umgang mit grossen Mächten jenseits der Landesgrenzen. Parallel zum Alleingang 1992 beschloss das Land, die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) zu bauen. Man wollte mit den beiden Tunneln durch die Alpen seine Verhandlungsposition in Europa stärken. Der Zwerg dachte: Hier führt der Weg des Riesen durch, hier wird er wohl immer mit uns reden wollen.
Doch der Verkehr verlagert sich – von den Waren hin zu den Finanzen. 2016 exportierte die Schweiz Waren im Wert von 113 Milliarden Franken in die EU und importierte von dort für knapp 125 Milliarden Franken. Ein Mehrfaches grösser sind aber die Werte, welche an der Schweizer Börse SIX mit Partnern aus der EU gehandelt werden. Sie betragen rund 400 Milliarden Franken.
Treffgenau auf den wunden Punkt
EU-Regierungschef Jean-Claude Juncker war Finanzminister seines Landes Luxemburg, einem Bankenland, wie die Schweiz es ist. Er ist der Mann, der dort das Bankgeheimnis abgeschafft hat. Er war Chef der Eurogruppe, dem Gremium der Europäischen Finanzminister. Nur zu gut kennt Juncker den wunden Punkt des kleinen Landes im Zentrum der EU: Es ist die Börse.
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