Schweiz fällt historischen Europa-Entscheid
Mit 50,34% sagt das Schweizer Stimmvolk äusserst knapp Ja zur "Masseneinwanderungs-Initiative", welche den freien Personenverkehr mit der Europäischen Union in Frage stellt. Die Differenz betrug lediglich 19'500 Stimmen. Die Stimmbeteiligung war mit 56% ebenfalls historisch hoch.
Die Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» der rechtsbürgerlichen Schweizerischen Volkspartei (SVP) hat gemäss vorläufigen, amtlichen Endresultaten 50,3% Ja-Stimmen erhalten. 17 Kantone sprachen sich dafür aus, 9 dagegen.
Zürich und Bern waren schliesslich jene, die den Entscheid ausmachten. Auf die Resultate aus diesen Kantonen musste am Sonntagnachmittag lange gewartet werden. Da sehr viele Leute an die Urnen gingen, dauerte auch das Auszählen länger als üblich.
Mit 56% der Stimmberechtigten gingen am Sonntag viel mehr Personen an die Urnen als bei anderen Abstimmungen. Der Durchschnitt der letzten 20 Jahre liegt bei lediglich 44%. Laut Politologen war es seit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 die fünfthöchste Stimmbeteiligung. Die Mobilisierung bei den Befürwortern scheint gut gespielt zu haben. Für einmal seien auch viele Unzufriedene an die Urne gegangen, schätzten Politologen.
PLACEHOLDERKontingente statt freier Personenverkehr
Das Volksbegehren fordert, mit Kontingenten die Zuwanderung im Ausländer- und im Asylbereich zu begrenzen. Seit 1980 habe die Anzahl der Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz stetig zugenommen. Heute stamme jede vierte Person aus dem Ausland, betonte das Komitee. Wie genau das Volksbegehren umgesetzt werden soll, ist aber noch unklar.
Weil die Initiative dem Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) widerspricht, stellt sie eine Herausforderung für das bilaterale Verhältnis dar. Wegen der Guillotine-Klausel steht das Paket der Bilateralen Abkommen I nun als Ganzes in Frage. Für die EU gilt die Personenfreizügigkeit als eine der Grundfreiheiten und gilt als nicht verhandelbar.
«Röstigraben»
Augenfällig ist die durchgehende Ablehnung der Initiative in der Romandie. Beobachter führen dies darauf zurück, dass in der Westschweiz im Gegensatz zum Tessin der Wirtschaftsmotor brumme und die Einwanderung nicht als Problem betrachtet werde. Der Kanton Tessin hingegen stand allen Abstimmungen zu EU- und Ausländerthemen in den letzten Jahren ablehnend gegenüber und nahm die Initiative der Schweizerische Volkspartei mit 68% am deutlichsten an.
Laut Politologe Claude Longchamp von gfs.bern, das für die SRG SSR die Hochrechnungen erstellte, sind die grossen Städte weiterhin für die Personenfreizügigkeit, die kleineren und mittelgrossen Zentren in der Deutschschweiz aber seien in letzter Zeit kritischer geworden. Paradox ist, dass die Initiative dort verworfen wurde, wo der so genannte «Dichtestress» am höchsten ist.
Reaktionen
Für den Bundesrat ist das Resultat der Abstimmung Ausdruck eines Unbehagens gegenüber dem Bevölkerungswachstum der letzten Jahre, wie es aus Bern hiess. Bundesrätin Simonetta Sommaruga, Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD), bezeichnete den Entscheid als «grundlegende Weichenstellung, die mit weitreichenden Folgen verbunden» sei.
Der Verfassungstext sei sehr offen formuliert. «Der Bundesrat wird dem Parlament möglichst rasch einen Vorschlag für dessen Umsetzung unterbreiten.» Da der neue Verfassungstext im Widerspruch zum Freizügigkeits-Abkommen stehe, werde der Bundesrat auch das Gespräch mit den zuständigen Gremien der EU und ihren Mitgliedstaaten aufnehmen, um über das weitere Vorgehen und die Aufnahme von Verhandlungen zu diskutieren.
Höchst erfreut zeigte sich die SVP. Das Abstimmungsergebnis sei ein «klares Verdikt», sagte Parteipräsident Toni Brunner im Schweizer Fernsehen SRF. «Das Volk ist viel sensibler als Bundesbern, wenn es um die Probleme durch Zuwanderung und Migration geht», kommentierte er den Erfolg der Initiative an der Urne. Der Bundesrat müsse nun unverzüglich Verhandlungen zur Personenfreizügigkeit aufnehmen.
Ebenso klar sei, dass nun auch innenpolitisch die Voraussetzungen für eine selbständige Steuerung der Zuwanderung geschaffen werden müssten. Dass es nicht so weitergehen könne, habe gut die Hälfte der Bevölkerung nun unterstrichen. «Das ist eine Wende in der Zuwanderungspolitik», so Brunner.
Man habe ein knappes Resultat erwartet, nun sei es «in die falsche Richtung gegangen», sagte Heinz Karrer, Präsident des Wirtschafts-Dachverbandes Economiesuisse. «Das gilt es zu akzeptieren, und das Kontingent-System ist jetzt umzusetzen.» Allerdings sei die Einführung von Kontingenten der wirtschaftlichen Flexibilität nicht sehr förderlich. «Es ist eine grosse Herausforderung, es hat sicher grosse Auswirkungen auf die Wirtschaft.»
Die Sozialdemokratische Partei (SP) bedauert die Annahme der Initiative «zutiefst»: «Fremdenfeindlichkeit, Ausgrenzung und Abschottung sind die falschen Antworten auf existierende oder heraufbeschworene Probleme», hiess es. «Die Verantwortung für das Scheitern der Öffnung der Schweiz tragen die bürgerlichen Parteien und ihre Geldgeber aus der Wirtschaft.»
Ja zu mehr Geld für Bahnausbau
Deutlich war das Resultat bei der Behördenvorlage zu Finanzierung und Ausbau der Schweizer Bahninfrastruktur (FABI). 62% stimmten dem 6,4 Milliarden Franken schweren Paket zu. Betrieb, Unterhalt und Ausbau des Schienennetzes werden künftig aus einem Topf finanziert.
In 12 Kantonen konnten die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer elektronisch abstimmen.
«Von den rund 165’000 Stimmberechtigten, die ihre Stimme via Internet hätten abgeben können, haben 28’785 ihre Stimme elektronisch eingelegt», meldete die Bundeskanzlei.
In den 12 Kantonen, die am Versuch teilnahmen, hätten zwei Drittel aller zum Vote électronique zugelassenen Stimmberechtigten diesen Kanal zur Stimmabgabe benützt.
Sehr erfreut zeigte sich die Sozialdemokratische Partei: «Dieses deutliche Ja ist ein Sieg der linken und ökologischen Kräfte, die 2009 die ÖV-Initiative lanciert hatten, denn FABI ist der direkte Gegenvorschlag zu dieser ÖV-Initiative», hiess es.
Der Automobil Club der Schweiz (ACS), der die Vorlage ablehnte, erwartet, dass nach der langfristigen Sicherstellung der Finanzierung der Eisenbahninfrastruktur nun rasch analoge Massnahmen für den Strassenausbau beschlossen werden.
Abtreibungsfinanzierung abgelehnt
Die dritte Vorlage, die Volksinitiative «Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache», wurde mit einer satten Mehrheit von 69,8% bachab geschickt. Alle ausser ein einziger Kanton (Appenzell Innerrhoden) lehnten das Volksbegehren ab.
Die Initiative verlangte, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr von der obligatorischen Krankenversicherung bezahlt werden sollen. Die Initianten hatten bereits 2009 versucht, die Abtreibung aus dem Leistungskatalog der Grundversicherung auszuschliessen, waren damit aber im Parlament gescheitert.
Bereits 2002 hatte das Stimmvolk der so genannten Fristenlösung zugestimmt, die den straffreien Schwangerschaftsabbruch für Frauen in einer Notlage in den ersten zwölf Wochen vorsieht.
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