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Frauen erklären «ungerechtem Schweizer Steuersystem» den Kampf

"Wo sind die Frauen"", lautet die Mauerinschrift in der Altstadt von Lausanne. Tatsächlich sind die Frauen, die in der Schweiz leicht die Mehrheit bilden, in diversen Schlüsselbereichen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft noch nicht auf derselben Stufe wie die Männer angekommen. © Keystone / Laurent Gillieron

Auf dem Schweizer Arbeitsmarkt sind Frauen oft Beschäftigte zweiter Klasse, arbeiten doch viele von ihnen Teilzeit. Ein Grund dafür ist das Steuersystem, das berufstätige Ehepaare als Einheit taxiert. Das wollen Frauen korrigieren – mit einer Volksinitiative für die Individualbesteuerung.

Es ist alles andere als ein Klischee: Die Schweiz ist ein einig Volk von Schaffern. Und Schafferinnen! Klammheimlich hat sie im neusten Ranking der OECD über den BeschäftigungsgradExterner Link die Spitze übernommen: 80,3% oder vier Fünftel aller Personen im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64 Jahre gehen einer Lohnarbeit nach. Dahinter folgen die Niederlande, Japan und Island.

Die Kehrseite der Medaille: Ein beträchtlicher Teil davon sind Teilzeitjobs. Und dort sind die Frauen stark übervertreten. Unter dem Strich bedeutet das oft: geringere Löhne und Renten, weniger Weiterbildungsmöglichkeiten, limitierte Karriere-Chancen, erschwerte Integration in Teams, grössere Unsicherheit.

Diese strukturelle Ungleichheit missfällt der OECD: Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung empfiehlt der Schweiz seit Jahren, dass die Frauen in höheren Pensen arbeiten sollten. Als Massnahme dazu schlägt die Organisation die Einführung einer Individualbesteuerung vor, wie sie in den meisten Ländern Europas üblich ist.

Heiratsstrafe als alter Schweizer Zopf

Aber Regierung und Parlament haben entsprechende Forderungen bisher stets versenkt. Nun machen die Frauen der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP.Die Liberalen) Dampf – mit einer Volksinitiative zur Einführung der Individualbesteuerung.

Beitrag vom Schweizer Fernsehen SRF zur Lancierung:

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Sie wollen damit zwei Fliegen auf einen Streich schlagen: einerseits den Anteil der Frauen an der Beschäftigungsquote stärken, andererseits die so genannte Heiratsstrafe abschaffen.

Von letzterer sind berufstätige Ehepaare mit einem höheren gemeinsamen Einkommen betroffen. Dies insbesondere ab der Schwelle eines monatlichen Bruttoeinkommens von 15’000 Franken und mehr, wie ein Steuerexperte von Avenir Suisse, dem liberalen Thinktank der Schweizer Wirtschaft, in einem BlogExterner Link schrieb.

Ein Drittel der Ehepaare büssen

Von den rund 1,6 Millionen Paaren, die im Jahr 2017 in der Schweiz zusammenwohnten, waren rund 85% verheiratet. Und von diesen 1,35 Millionen Ehepaaren waren über 450’000 von der Heiratsstrafe betroffen – also ein Drittel.

Umgekehrt heisst dies aber auch, dass aktuell zwei Drittel der berufstätigen Ehepaare von einem steuerlichen Heiratsbonus profitieren – sie zahlen weniger Bundessteuer als Konkubinats-Paare mit gleichem Einkommen.

«Ein grosser Schritt»

«Die Umstellung auf die Individualbesteuerung würde die Gleichstellung in der Schweiz einen grossen Schritt voranbringen», sagt Christa Markwalder, Mitglied des InitiativkomiteesExterner Link und Nationalrätin der FDPExterner Link. Das heutige Modell der Besteuerung von Ehepaaren als ‹Einverdiener› fördere negative Effekte der Erwerbsarbeit. «Diese können wir mit der Volksinitiative beseitigen», sagt Markwalder.

Doch auch sie weiss, dass selbst bei Annahme der Initiative andere gewichtige Negativ-Effekte bestehen bleiben würden. So insbesondere die Kosten für die externe Kinderbetreuung, die in der Schweiz «sehr hoch» seien.

Das illustriert das Beispiel eines Bekannten von mir: Für die Betreuung der drei Kinder ausser Haus zahlten er und seine Frau rund 20’000 Franken im Jahr. Immerhin mit dem Resultat, dass dieser Abfluss das Ehepaar davor bewahrte, auch nur annähernd an den Schwellenbereich zur Heiratsstrafe zu gelangen.

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Für Familien mit mittleren oder schwächeren Einkommen ist ein solcher Budgetposten oft kaum zu stemmen. Mit der Konsequenz, dass oft die Mutter daheimbleibt – oder eben höchstens Teilzeit arbeitet.

In einer Studie der Müller-Möhl FoundationExterner Link, auf die sich die Initiantinnen stützen, wird das Potenzial des steuerlichen Systemwechsels mit dem Äquivalent von 60’000 neu geschaffenen Vollzeitstellen beziffert. Damit könnten laut Initiantinnen 300’000 Frauen ihre Arbeitspensen um je 20% hochschrauben. Dieser Rechnung zugrunde liegen die kumulierten Entlastungen von der allgemeinen Bundessteuer. Dort fällt in der Schweiz ein Grossteil der steuerlichen Heiratsstrafe an. Bei den Kantonen ist diese in unterschiedlichem Mass, aber schon weitgehend abgebaut.

Dennoch könnte der Effekt auf dem Arbeitsmarkt laut den Autoren der Studie noch gesteigert werden, wenn auch die Kantone und Gemeinden konsequent auf die Individualbesteuerung wechseln würden.

Wind im Parlament

Jetzt ist auch im Schweizer Parlament Dynamik in die Sache gekommen: In der aktuellen Sommersession hat der Nationalrat, die Grosse Kammer, eine Motion von Christa Markwalder zur Einführung der Individualsteuer angenommen. Sie hatte den Vorstoss 2019 eingereicht, und der Bundesrat hatte ihn postwendend abgelehnt.

Schweiz ein steiniger Boden

Gleichstellung gehe in der Schweiz seit je nur «sehr langsam» vor sich, sagt Markwalder. Das habe sich nicht nur bei Frauenstimmrecht gezeigt, sondern auch beim Scheidungsrecht, beim Namensrecht und eben auch bei der Individualbesteuerung.

Aber auch mit dem aktuellen Ja des Nationalrats ist das Vorhaben noch nicht am Ziel, muss doch noch der Ständerat, die kleine Kammer, zustimmen. Erst dann wäre die Änderung des Steuersystems gesetzlich unter Dach und Fach.

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Die Geschichte macht aber klar: die Volksinitiative zur Individualbesteuerung hat nur dann eine Chance, wenn eine breite Allianz dahintersteht. Laut Markwalder ist dies jetzt der Fall: «Wir verfügen über eine sehr breite Unterstützung von links bis rechts. Die Sozialdemokratische Partei ist mit an Bord, ebenso Vertreterinnen von Grünen und Grünliberalen sowie Exponentinnen der Schweizerischen Volkspartei.»

Verlierer programmiert

Steuerexperte Beat Hintermann hegt durchaus Sympathien für die Forderung. «Ich teile die Meinung der Initiantinnen, dass man nicht höhere Steuern zahlen sollte, nur weil man verheiratet ist.»

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Doch der Professor der Universität BaselExterner Link warnt vor einer 1:1-Umsetzung des InitiativtextsExterner Link. Ginge man nämlich zur «reinen und obligatorischen Einzelbesteuerung» über, gäbe es dabei nicht nur lauter Gewinnerinnen und Gewinner, sondern logischerweise auch Verliererinnen und Verlierer.

Zu ihnen würde laut Hintermann ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung zählen. Und dieser müsste gar einen Steueraufschlag in Kauf nehmen, der je nach Situation mehrere Prozente des Einkommens betragen könnte.

USA gewähren Wahlfreiheit

Das aber hält der Steuerexperte für nicht machbar. Im politischen System der Schweiz sei eine solch massive Schlechterstellung von Haushalten ohne Mechanismen der Abfederung nicht üblich, sagt Hintermann. Eine solche Abfederung aber vermisst er im Initiativtext.

Sein persönlicher Favorit ist das Wahlmodell der USA. Das US-Steuersystem lasse berufstätigen Ehepaaren die Wahl, ob sie sich zusammen oder getrennt besteuern lassen – «je nachdem, mit welcher Variante ihnen am Schluss mehr Geld in der Haushaltskasse bleibt».

«Das Problem der Heiratsstrafe könnte also auch ohne Zwang zur Individualbesteuerung gelöst werden», sagt er.

Hintermann erwähnt auch die Individualbesteuerung in Deutschland, die dort in Form des Steuer-Splittings praktiziert werde. Dies heisst: Die beiden Einkommen der Ehepartner werden zusammengezählt und dann zweigeteilt – und fertig ist das steuerbare Individualeinkommen eines jeden Partners.

Transparenz herstellen

Die Initiantinnen des Schweizer Begehrens müssten genau sagen, wer gewinne und wer verliere, sagt Hintermann. Und sie müssten auch sagen, mit welchen Kompensationen jene rechnen könnten, die Einbussen erleiden würden. «Sonst ist das Vorhaben an der Urne chancenlos.»

Christa Markwalder kontert, dass solche Kritik exakt belege, dass das heutige System der Schweiz eben nicht fair sei. «Die Individualbesteuerung ist die faire Antwort, denn sie würde jede und jeden unabhängig vom Zivilstand gleichbehandeln.

Die Forderung nach einem blossen Systemwechsel ohne Vorgaben zur Umsetzung sei Absicht, sagt sie. Politisches Kalkül: So können Bund, Kantone – und letztendlich die Steuerpflichtigen an der Urne – entscheiden, wie sie die Individualbesteuerung umsetzen wollten.

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