«Stolz darauf, anderen jungen Abgeordneten den Weg geebnet zu haben»
Als Pascale Bruderer mit nur 31 Jahren Präsidentin des Nationalrats wurde, konnte sie auf eine steile Karriere zurückblicken. Im Jahr 2019 zog sie sich aus der Politik zurück, um sich dem Unternehmertum zu widmen. Seitdem hat sie sich für mediale Diskretion entschieden. Für swissinfo.ch machte sie eine Ausnahme.
swissinfo.ch: Wie entwickelt sich Ihr Startup Crossiety, eine Online-Plattform, die den Austausch und die gegenseitige Hilfe zwischen den Einwohnerinnen und Einwohnern von Gemeinden erleichtern soll?
Pascale Bruderer: Crossiety entwickelt sich gut. Im Jahr 2021 haben wir die hundertste Partnergemeinde aufgenommen. Darüber hinaus hat sich die Skalierbarkeit unserer Technologieplattform als hervorragend erwiesen, und wir haben die Rentabilitätsschwelle erreicht.
Auch die Durchdringung des deutschen Markts war erfolgreich, was uns bei der Vorbereitung unserer österreichischen Expansion motiviert. Als Schweizer Startup ist für uns aber eine rasche Etablierung in der Westschweiz noch wichtiger.
Pascale Bruderer wurde 1977 geboren und studierte an den Universitäten Zürich und Växjö (Schweden). Sie erwarb einen Bachelor in Politikwissenschaften, Staatsrecht und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie einen Master in Sozialwissenschaften.
Die sozialdemokratische Aargauerin war Stadträtin in Baden (1997-2003), Grossrätin im Aargau (2001-2002), Nationalrätin (2002-2011; Präsidentin 2010) und Ständerätin (2011-2019).
Nach ihrem Rücktritt aus der Politik im Jahr 2019 begann sie als Mitinhaberin und Verwaltungsrätin von Crossiety unternehmerisch tätig zu werden. Darüber hinaus wurde sie Mitglied mehrerer Verwaltungsräte, darunter TX Group, Bernexpo und Galenica.
Die Ziele von Crossiety sind lobenswert, aber es gehört nicht zu jener Art von Startup-Unternehmen, die für Investoren interessant sind.
Unser ultimatives Ziel ist es, den lokalen Gemeinschaften zu dienen und gleichzeitig profitabel zu sein. Wir streben nicht danach, unsere Rentabilität zu maximieren. Wenn wir das täten, würden wir anders handeln, etwa indem wir die Daten unserer Nutzerinnen und Nutzer kommerziell ausnutzen.
Vertrauenswürdig zu sein und den Schutz der Privatsphäre zu gewährleisten, sind wesentliche Eigenschaften, die uns von den grossen globalen Unternehmen unterscheiden.
Was haben Sie im Rahmen Ihrer unternehmerischen Erfahrungen gelernt, das Ihnen bei der Ausübung Ihrer gesetzgebenden Ämter von Nutzen gewesen wäre?
Ich habe immer versucht, Probleme aus verschiedenen Blickwinkeln zu analysieren, das heisst, ich habe mich in die Lage anderer Menschen versetzt, auch in die von Menschen, die sich nicht politisch engagieren. Dank dieses Ansatzes habe ich keine grossen Überraschungen erlebt, seit ich Unternehmerin geworden bin.
Dennoch lernte ich sowohl während meines politischen Lebens als auch jetzt jeden Tag dazu. Ich betrachte dies als grosses Privileg und bin sehr dankbar, dass ich auch heute noch jeden Tag Aufgaben in Angriff nehmen kann, die mich intellektuell herausfordern und ideell begeistern.
Innerhalb von Crossiety gibt es relativ wenige Frauen in Führungspositionen. Sind Sie nicht überzeugt von den Vorteilen der Vielfalt?
Im Gegenteil, Vielfalt und Inklusion sind und werden für mich immer zentrale Themen sein. Neben der Gleichstellung von Mann und Frau ist mir auch die Vielfalt der beruflichen und persönlichen Erfahrungen sehr wichtig. Was Crossiety betrifft, so haben wir im [zweiköpfigen] Verwaltungsrat Geschlechterparität, und unser operatives Team besteht aus sehr starken Frauen.
Warum haben Sie 2019 die Politik verlassen und in die Privatwirtschaft gewechselt?
Mein Rückzug aus der Politik hat für Verwunderung gesorgt. Viele Menschen haben sich gefragt, warum ich mich so früh zurückziehe. Aber nach über 20 Jahren im Parlament fand ich, dass mein Rückzug ziemlich spät kam.
Die Politik ist spannend, und ich habe immer viel Herzblut in sie investiert. Dennoch hatte ich vor zwei Jahren die Möglichkeit, zu wählen zwischen einem Versuch, in die Aargauer Regierung gewählt zu werden oder ein unternehmerisches Abenteuer anzufangen. Ich entschied mich für die zweite Option.
Der Zeitpunkt war ideal, denn in der Politik konnte ich viel Erfahrung sammeln. Jetzt, da ich in der Privatwirtschaft tätig bin, kann ich all diese Kenntnisse voll und ganz nutzen. Und ich habe auch die Möglichkeit, die politischen Werte konkret umzusetzen, die ich immer vertreten und von der Wirtschaft gefordert habe.
Haben Ihnen grosse Unternehmen während Ihrer Amtszeit in Bern Sitze in ihren Verwaltungsräten angeboten?
Ich erhielt viele Angebote, lehnte aber immer ab, um meine Unabhängigkeit zu bewahren. Ich dachte auch, wenn die Unternehmen sich für etwas anderes als nur meinen Sitz im Parlament interessierten, würden sie mich nach meinem Rückzug aus der Politik wieder ansprechen.
Und genau das haben sie dann auch gemacht! Ich empfehle amtierenden Bundesparlamentarierinnen und -parlamentariern den gleichen Ansatz.
In vielen Verwaltungsräten finden sich vor allem rechte Politikerinnen und Politiker. Sind Sie als Sozialdemokratin dort wirklich am richtigen Platz?
Die Zeiten haben sich geändert! Themen wie Nachhaltigkeit sind zu einer Notwendigkeit geworden und stehen aus gutem Grund im Zentrum der Wirtschaft. Ich sitze nicht trotz, sondern wegen meiner sozialliberalen und umweltschützerischen Ader in verschiedenen Verwaltungsräten.
Sie waren früher Mitglied des rechten Flügels der Sozialdemokratischen Partei (SP). Fühlen Sie sich nicht mehr ganz wohl mit den Ideen, welche die Partei vertritt?
Bevor ich in die Politik eingestiegen bin, habe ich die Ideen der SP oft mit jenen der Freisinnig-Demokratischen Partei verglichen. Schliesslich entschied ich mich für die SP und habe dies nie bereut, speziell weil ich zeigen wollte, dass sozialliberale Ideen in der SP ihren Platz haben.
Dennoch war die Parteipolitik während meiner Zeit als Parlamentarierin jener Aspekt, der mir am wenigsten gefiel. Glücklicherweise stand im Ständerat die Sachpolitik im Vordergrund.
«Ich sitze nicht trotz, sondern wegen meiner sozialliberalen und umweltschützerischen Ader in verschiedenen Verwaltungsräten.»
Als Sie mit 24 Jahren in den Nationalrat gewählt wurden, waren Sie die jüngste Nationalrätin. Halten Sie Ihre Wahl rückblickend für zu früh?
Aus gesellschaftlicher Sicht denke ich das ganz und gar nicht, denn es ist wichtig, dass die junge Generation im Parlament vertreten ist. Ich gestehe Ihnen sogar, dass ich stolz darauf bin, anderen jungen Parlamentarierinnen und Parlamentariern den Weg geebnet zu haben, auch dank meiner Wahl zur Nationalrats-Präsidentin im Alter von 31 Jahren.
Natürlich bin ich der gesamten Schweizer Bevölkerung sehr dankbar für das Vertrauen, das mir schon in jungen Jahren entgegengebracht wurde.
In den USA wird jede und jeder nationale Abgeordnete von etwa 30 Experten und Expertinnen unterstützt. Im Gegensatz dazu erhalten die Abgeordneten in der Schweiz nur sehr wenig Unterstützung.
Ich bin sehr für das Schweizer Milizsystem, da es die Nähe zum Volk gewährleistet. Ich sehe jedoch zwei Probleme. Das erste ist die ungenügende Vorsorge der Bundesparlamentarierinnen und -parlamentarier, die nicht einmal über eine zweite Säule verfügen. Glücklicherweise wurde dies zum Teil behoben.
Das zweite Problem ist der Mangel an parlamentarischen Assistentinnen und Assistenten. Ein Stab – wie in vielen anderen Ländern – ist sicherlich nicht notwendig, aber zum Beispiel eine Halbtags-Assistenz würde die Qualität der parlamentarischen Entscheidungen erhöhen und gleichzeitig das Gewicht der Lobbys verringern.
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Ist Ihr Rückzug aus der Politik endgültig, oder ist eine Rückkehr denkbar, zum Beispiel in kantonale oder Eidgenössische Exekutivämter?
Ich habe nie Karrierepläne gemacht und mich in dieser Hinsicht auch nicht verändert. Stattdessen habe ich mich immer mit Leidenschaft den Aufgaben gewidmet, die mir anvertraut wurden.
Aus diesem Grund konzentriere ich mich derzeit voll und ganz auf meine unternehmerischen Projekte. Neben Crossiety beschäftige ich mich auch intensiv mit der Digitalisierung der Zahlungsinfrastruktur in der Schweiz.
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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