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«Schweiz steuert auf Vertragsbruch mit EU zu»

Die Schweiz will "Masseneinwanderung" stoppen. Sie werde dadurch einen Vertrag mit der EU brechen, sagt Prof. Christa Tobler. Keystone

Die Schweizer Regierung werde einen Gesetzesentwurf zur Umsetzung der "Masseneinwanderungs-Initiative" vorlegen, der EU-Recht verletze, sagt eine Europa-Rechtsexpertin der Uni Basel.  Eine andere Möglichkeit sei ausgeschlossen, weil die EU Neuverhandlungen zum Personenfreizügigkeits-Abkommen definitiv ablehne.

Im Juli hat die EU der Schweiz in einem offiziellen Schreiben klar gemacht, dass sie der Schweiz beim freien Personenverkehr keine Ausnahmeregelung gewähren werde. Weil die Regierung die «Masseneinwanderungs-Initiative» möglichst wortgetreu umsetzen will, «steuert die Schweiz ganz klar auf einen Vertragsbruch zu», sagt Christa Tobler, Professorin für Europarecht am Europainstitut der Universität Basel.

Keine Neuverhandlungen

Am 9. Februar 2014 hat das Schweizer Stimmvolk die sogenannte Masseneinwanderungs-Initiative mit 50,3 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Weil die Initiative, welche die Einwanderung mit Kontingenten und Inländervorrang bei der Stellenbesetzung eindämmen will, das Personenfreizügigkeits-Abkommen (FZA) verletzt, hatte die Schweizer Regierung die EU um Neuverhandlungen des FZA ersucht. Im Juli lehnte die EU das Gesuch ab. 

Im Gespräch mit swissinfo.ch erläutert sie auch, weshalb die EU für die Schweizer Wirtschaft viel wichtiger ist, als umgekehrt.

swissinfo.ch: Alt Nationalrat Christoph Blocher [Drahtzieher der sogenannten Masseneinwanderungs-Initiative] hat in einem ZeitungsinterviewExterner Link behauptet, die EU sei vertraglich verpflichtet, über eine Änderung des Personenfreizügigkeits-Abkommens zu verhandeln. Ist das so?

Christa Tobler: Nein, in keiner Art und Weise. Im Abkommen steht, dass jede Partei einen Vorschlag für Änderungen machen kann. Aber es steht selbstverständlich nichts darüber, dass die andere Seite darauf eintreten oder sogar Ja sagen müsste.

Auch die Schweiz ist in der Vergangenheit einmal auf ein Ersuchen der EU nicht eingetreten, und zwar zum selben Abkommen.

Die Behauptung, es gebe einen Verhandlungszwang, ist rechtlich gesehen blanker Unsinn. Es wäre doch sinnlos und reine Zeitverschwendung zu verhandeln, wenn die andere Seite weiss, dass sie auf dieses Anliegen gar nicht eintreten kann.

swissinfo.ch: Christoph Blocher ist selber Jurist. Er müsste doch wissen, dass ein Vertragspartner nicht zum Verhandeln gezwungen werden kann?

Ch.T.: Das wundert mich auch sehr. Wer den entsprechenden Artikel des Abkommens liest, kann gar nicht auf diese Idee kommen. Es ist bis zu einem gewissen Grad wohl Wunschdenken. Ich kann mir vorstellen, dass es mit politischen Zielen zu tun haben könnte. Damit werden aber gewisse Botschaften in die Welt gesetzt, die rechtlich keinerlei Basis haben.

Christa Tobler, Professorin für Europarecht an der Uni Basel Keystone

swissinfo.ch: Das Verhandeln mit der EU über eine Änderung des Personenfreizügigkeits-Abkommen im Sinne der so genannten Masseneinwanderungs-Initiative ist also definitiv vom Tisch…

Ch.T.: …ja, und das wussten wir schon seit Monaten…

swissinfo.ch: …es wurde seitens der EU von Anfang an gesagt, und jetzt liegt es auch offiziell vor. Damit steckt die Schweizer Regierung tiefer denn je in einem Dilemma, wie sie die Initiative umsetzen soll, ohne dieses Abkommen zu verletzen. Das Justizdepartement wird noch dieses Jahr einen Gesetzesentwurf ausarbeiten. Wie könnte dieses Gesetz aussehen?

Ch.T.: Der Bundesrat hat ja gewisse Leitlinien skizziert: Er will für Aufenthalte ab vier Monaten Ausländer-Kontingente sowie einen Inländer-Vorrang bei der Stellenbesetzung einführen, und das wird in dem Gesetzesvorschlag festgehalten werden. Das steht aber im klaren Widerspruch zum Personenfreizügigkeits-Abkommen.

swissinfo.ch: Wie auch immer man es drehen und wenden wird?

Ch.T.: …es bleibt ein Widerspruch. Jede Bestimmung, die einen Inländer-Vorrang und/oder Quoten beinhaltet – egal wie hoch oder niedrig, wie hart oder weich die Höchstzahlen auch wären – steht im Widerspruch zum Abkommen und ist deshalb für die EU-nicht akzeptabel.

swissinfo.ch: Wird sie das Abkommen mit der Schweiz kündigen?

Ch.T.: Das Abkommen hält fest, dass jede Partei jederzeit kündigen kann. Aber ob gekündigt wird, ist nicht eine rechtliche, sondern eine politische Entscheidung. Ob die EU diese Entscheidung treffen wird, können wir im Moment nicht wissen.

swissinfo.ch: Wie wahrscheinlich ist es für Sie?

Ch.T.: Ich erachte es als eher unwahrscheinlich, nicht zuletzt weil das Kündigungsverfahren relativ komplex ist. Ein Kündigungs-Beschluss würde die Zustimmung jedes einzelnen Mitgliedstaates im Ministerrat benötigen sowie einer Mehrheit des Europa-Parlaments.

Ich glaube deshalb nicht, dass wir übermorgen eine Kündigung im Haus haben werden. 

swissinfo.ch: Müsste die Schweiz das Abkommen kündigen, wenn sie ein vertragswidriges Gesetz erlassen wird?

Ch.T.: Die Schweiz hat jetzt vor, ein Gesetz zu erlassen, das ganz bewusst gegen dieses Abkommen verstösst. Wenn sie das Abkommen nicht mehr einhalten will, wäre es eigentlich logisch, dieses zu kündigen. Aber im Abkommen steht nirgends, dass man es kündigen müsse, wenn es nicht eingehalten wird.

Die Praxis in anderen völkerrechtlichen Bereichen zeigt, dass viele Länder etwas unterschrieben haben, an das sie sich nicht halten und trotzdem nicht im Traum daran denken zu kündigen.

Nochmals abstimmen?

Verschiedene Wissenschaftler an Schweizer Universitäten, unter ihnen Europarechts-Experte Prof. Matthias Oesch von der Uni Zürich, sind überzeugt, dass sich die Schweiz nur aus dem Dilemma befreien kann, wenn über den umstrittenen Verfassungsartikel 121a (Masseneinwanderung) nochmals abgestimmt wird, sofern eine Neuverhandlung des FZA nicht gelingt und eine konsequente Umsetzung von Art. 121a zur Kündigung des FZA und damit des ganzen Pakets der Bilateralen I führen würde.

Im Einklang  mit gewissen Äusserungen von Bundesräten gehen sie davon aus, dass das Volk in 2 bis 2,5 Jahren über die Fortsetzung oder das Ende des bilateralen Wegs in seiner heutigen Form zu entscheiden haben wird. «In der Vorlage ginge es wohl konkret darum, entweder Art. 121a beizubehalten und das FZA zu kündigen, oder diesen Artikel zu streichen oder so zu ändern, dass die Verträge mit der EU beachtet werden müssen», sagt Matthias Oesch.  Als dritte – und wohl eleganteste Lösung – könnten sich die Wissenschaftler auch einen neuen «Europaartikel» vorstellen, der das Verhältnis zur EU grundsätzlich regeln würde.

Eine erneute Abstimmung über den Artikel rechtfertigen die Wissenschaftler damit, dass das Volk das letzte Wort über die Beibehaltung des bilateralen Wegs bzw. dessen Beendigung haben soll. Darüber sei am 9. Februar in dieser absoluten Form nicht direkt abgestimmt worden, sagen sie.

Im Oktober wird an der Uni Zürich eine Tagung zum Thema durchgeführt. 

swissinfo.ch: Es ist also möglich, dass beide Seiten mit einem vertragswidrigen Zustand leben würden?

Ch.T.: Wir steuern ganz klar auf einen Vertragsbruch zu, und dann stellt sich die Frage, was damit geschehen soll.

swissinfo.ch: Und wie lautet Ihre Antwort darauf?

Ch.T.: Das ist wiederum weniger eine rechtliche, als eine politische Frage. Ich kann mir vorstellen, dass die EU sagt, ‹jetzt hält sich dieses Land [die Schweiz,N.d.R.] nicht einmal mehr an die elementarsten Grundsätze eines unserer wichtigsten Abkommen, das muss Folgen in anderen Bereichen haben›.

swissinfo.ch: Zum Beispiel?

Ch.T.: Die offensichtlichste Folge ist, dass die EU die Zusammenarbeit im Bereich der Forschung nicht fortsetzen wird.

swissinfo.ch: Beim Projekt Horizon 2020 haben die EU und die Schweiz inzwischen aber wieder eine Lösung gefunden…

Ch.T.: …eine Lösung, bei der die Schweiz nicht wie vorher als Vollmitglied dabei ist, und die nur solange gilt, wie die Personenfreizügigkeit noch eingehalten wird.

swissinfo.ch: Zurück zur Option ‹vertragsbrüchiger Zustand›. Damit könnte die Schweiz gut leben?

Ch.T.: Auf den ersten Blick eine verlockende Versuchung. Aber ich glaube, dass man die Folgen eines solchen Zustands unterschätzt.

Wir stehen jetzt vor einer Zeit der grossen Verunsicherung. Die Unternehmen wissen nicht, welche Regelungen gelten werden, und das bleibt nicht ohne wirtschaftliche Folgen.

swissinfo.ch: Aber Christoph Blocher, der selber ein erfolgreicher Wirtschaftspatron ist, sagt, dass der Schaden für die EU grösser wäre, wenn sie die Wirtschaftsbeziehungen mit der Schweiz behindern würde. Sein Argument: Die Schweiz importierte 2013 Güter im Wert von 170 Mrd. Franken aus der EU, während sie lediglich für 96 Mrd. in die EU exportierte.

Ch.T.: Bei dieser Argumentation werden die Verhältnisse völlig ausser Acht gelassen, nämlich die Bedeutung dieser 170 Mrd. für die EU im Vergleich zur Bedeutung der 96 Mrd. für die Schweiz. Die wirtschaftliche Abhängigkeit der Schweiz von der EU in Prozenten gerechnet ist ungleich viel höher als jene der EU von der Schweiz. Alles andere ist eine völlig verhältnislose, falsche Darstellung.

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