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Schweiz soll viel weniger Juden abgewiesen haben

Historisches Bild von 1943: Grenze dicht Richtung Frankreich an der Bahnstation Moillesulaz in Thônex (Genf)
Grenze dicht Richtung Frankreich bei der Bahnstation Moillesulaz in der Genfer Gemeinde Thônex (1943). RDB

Eine Studie facht die Debatte um die Politik der Schweiz gegenüber den von den Nazis verfolgten Juden wieder an. Eine Historikerin kommt zum Schluss, dass während des II. Weltkriegs nur knapp 3000 jüdische Flüchtlinge an der Schweizer Grenze zu Frankreich abgewiesen worden waren. Bisherige Schätzungen gingen von knapp 25'000 Zurückgewiesenen aus.

15’519 Jüdinnen und Juden sollen zwischen 1939 und 1945 versucht haben, über die schweizerisch-französische Grenze ins neutrale Land zu gelangen. Davon sei 12’675 Personen die Einreise erlaubt worden, 2844 seien abgewiesen worden. Dies schreibt die Historikerin Ruth Fivaz-Silbermann in ihrer Doktorarbeit «Die Flucht in die Schweiz». Sie stellte die Arbeit kürzlich an der Universität Genf vor.

«Meine Forschungen geben ein viel klareres Bild, wie viele Menschen geflüchtet sind. Sie zeigen auch ihre Geschichten: Woher kamen sie, wohin und wie sind sie geflüchtet? Konnten alle flüchten? Welche Gefahren mussten sie gewärtigen?», sagt Fivaz-Silbermann gegenüber swissinfo.ch.

Die Schweiz hat auch Grenzen mit Deutschland (Norden), Österreich und Liechtenstein (Osten) sowie Italien (Süden). Die Historikerin aber schätzt, dass zwei Drittel aller jüdischen Flüchtlinge, die während des Zweiten Weltkriegs in die Schweiz gelangten, über Frankreich einreisten.

Ihre detaillierte Arbeit, für die sie sich durch zehntausende Dokumente der Schweizer Behörden arbeitete, zeigte auch, dass 248 Jüdinnen und Juden, die von der Schweiz ausgeschafft wurden, später in Vernichtungslagern der Nazis ums Leben gekommen sind. Doch sie räumt ein, dass diese Zahl auch höher sein könnte.

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Die genauen Angaben der Historikerin über jüdische Menschen, die von der Schweiz aufgenommen oder abgewiesen wurden, stehen in Kontrast zur offiziellen Zahl von 24’398 Personen, die gemäss Bergier-BerichtExterner Link, der umfangreichsten Untersuchung zum Verhältnis Schweiz-Nazideutschland, gewaltsam zurückgeschafft worden waren. Die Kommission unter Leitung des Wirtschaftshistorikers Jean-François Bergier untersuchte zwischen 1997 und 2002 die Rolle der Schweiz im II. Weltkrieg.

«Wir wissen auch, dass 27% via Italien gekommen sind», sagt Fivaz-Silbermann. «Eine noch nicht publizierte Studie der Tessiner Archive schätzt, dass dort 6000 jüdische Personen in die Schweiz einreisten und etwa 300 zurückgeschickt wurden. Für die österreichische und die deutsche Grenze gibt es keine Studien. Doch es wird angenommen, dass die Zahlen dort sehr tief waren.»

Bereits zwischen 1933 und 1939 hätten jüdische Menschen aus Deutschland versucht, in die Schweiz einzureisen, «doch der Holocaust war entsetzlich. Die Menschen wurden entweder ausgewiesen, sie emigrierten oder versteckten sich vor den Behörden. Beispielsweise war es extrem schwierig, von Berlin in die Schweiz zu reisen. Sehr wenige Menschen kamen aus Deutschland, verglichen mit Frankreich und Italien. Das ist keine Hypothese, das ist ein Fakt».

Die Zahl von 24’398 Abgewiesenen basiert auf der 1996 abgeschlossenen Forschung von Guido Koller, einem Historiker des Berner Bundesarchivs. Dazu gehörten, wie das Westschweizer Fernsehen RTS berichtet hat, auch Personen anderen Glaubens, und einige Flüchtlinge wurden mehrmals aus der Schweiz zurückgeschafft.

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Gegenüber RTS wollten weder Koller noch Georg Kreis, ein Mitglied der Bergier-Kommission, einen Kommentar abgeben, da sie die Studie nicht gelesen hätten. Beide aber begrüssten, dass neue Studien ermöglichten, sich ein präziseres Bild über die Schweizer Politik und deren Konsequenzen zu machen.

Zwei weitere Historiker haben ebenfalls die Schweizer Politik gegenüber Jüdinnen und Juden während dieser Zeit untersucht. 2013 behauptete auch der bekannte französische Nazijäger und Historiker Serge KlarsfeldExterner Link, dass an der Schweizer Grenze weniger Menschen jüdischen Glaubens zurückgewiesen worden seien, als bisher angenommen. Auch er kam auf etwa 3000 Personen.

2010 publizierte der Autor Henry SpiraExterner Link eine Studie über jüdische Flüchtlinge in der nordwestlichen Jura-Region, die an Frankreich grenzt. Er fand laut RTS ebenfalls heraus, dass die Statistiken oft übertrieben waren.

«Eine gewisse Offenheit»

In ihrer Schlussfolgerung teilt Fivaz-Silbermann eine differenzierte Ansicht über die Aktionen der Schweizer Behörden, besonders der Kantonspolizeien und deren Umsetzung des Regierungs-Entscheids vom 13. August 1942, alle Grenzen hermetisch zu schliessen.

«Die Schweiz zeigte eine gewisse Offenheit. Sie war nicht völlig abgeriegelt. Sie liess viele gefährdete Manschen hinein, während die Grenzen geschlossen offiziell blieben», so die Historikerin.

«Es gab die offizielle Politik – dass man Menschen davon abhielt, in die Schweiz zu kommen. Doch zur Strategie gehörten auch viele Lockerungen… So flohen im September 1942 tausende Juden aus Vichy-Frankreich in die Schweiz, nach Genf und ins Wallis und per Schiff über den Genfersee. Die Schweizer Behörden gaben den Befehl, die Menschen nicht zurückzuweisen. Zwar nicht offiziell, sondern per Telefon an die Polizeidirektoren der betroffenen Kantone. An der Grenze wurde aber nicht immer im Sinn der Flüchtlinge entschieden, da die Schweizer Armee entschied, wer abgewiesen werden sollte.»

Fivaz-Silbermann arbeitete 19 Jahre lang an ihrer Doktorarbeit und untersuchte dafür zehntausende Dokumente beim Schweizer Zoll, bei Polizei- und Migrationsbehörden in verschiedensten Kantonen und bei der Bundesverwaltung in Bern.

«Es war ein echt akribische Arbeit; detaillierte Archivdurchforstung, die nicht einfach war», sagt sie. «Ich legte für jede Familie oder Einzelperson einen Datensatz an. Geschichten wie ‹Ich wurde in Warschau geboren und zog nach Deutschland, das ich verliess, als Hitler an die Macht kam. Dann wurde ich nach Frankreich deportiert und in jenem und jenem Lager festgehalten. Später bezahlte ich einem Menschenschmuggler viel Geld, um in die Schweiz zu kommen.› Es gibt tausende Geschichten wie diese.»

Fivaz-Silbermanns Doktorarbeit sollte demnächst auf der Website der Universität Genf publiziert werden. Sie plant auch eine kürzere Version und ein Buch. Zudem will sie den hunderten Anfragen nachgehen, die sie von Familienmitgliedern erhalten hat, die Informationen über ihre jüdischen Verwandten suchen, die in die Schweiz geflohen waren.


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