Schweiz und Norwegen: Zwei europäische «Fälle»
Das eine Land ist mittendrin, das andere am äussersten Rand. Trotzdem haben beide viele Gemeinsamkeiten: Reichtum, Berglergeist, politische Stabilität – und Europaskepsis. Eine Bestandesaufnahme im Vorfeld des Besuchs von Doris Leuthard in Oslo.
«Die norwegische Presse schreibt in dieser Zeit viel über die Schweiz. Das ist sehr interessant und auch sehr neu», beobachtet der Politologe Ulf Sverdrup.
«Die Debatte, ob die Bilateralen Beziehungen zur Europäischen Union fortgesetzt werden sollen oder nicht, ist in Norwegen nicht unbeachtet geblieben. Der Zufall will es nun, dass ausgerechnet jetzt die Schweizer Bundespräsidentin unser Land besucht. Das hätte ich mir vor einem Jahr noch nicht vorstellen können.»
Ulf Sverdrup ist Leiter des Sekretariats des «Europe Review Commitee», einer von der norwegischen Regierung geschaffenen Stelle, um Bilanz zu ziehen über den Anschluss des Landes 1992 an den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Ein Schritt, den die Schweiz im selben Jahr abgelehnt hatte.
Sverdrup bemerkt, dass die Euroskeptiker in Norwegen den Bilateralen Weg der Schweiz ganz genau beobachten würden.
Trotz ihrem gemeinsamen Misstrauen gegenüber der EU haben die beiden Länder aber sicherlich nicht die gleichen Möglichkeiten, was sich mit der geografischen Lage erklären lässt: das eine mitten im Zentrum Europas, das andere am äussersten nördlichen Rand. Doch in beiden Ländern schwelt ein Konflikt über ihre Beziehungen zu Brüssel.
Vernachlässigte Ähnlichkeiten
Sverdrup kennt die Schweiz gut, über die er vor 10 Jahren als Ko-Autor einen vergleichenden Artikel verfasst hat: «Ich habe immer gedacht, dass der Vergleich zwischen diesen beiden reichen, bergigen Ländern interessant ist, dass dies aber bis heute nicht viele Leute interessiert hat.»
Die Schweizer Presse schreibt auch vermehrt über Norwegen, seit die Möglichkeit eines Beitritts zum EWR als Alternative zum derzeit als eher unsicher geltenden Bilateralen Weg wieder Einzug in die politische Debatte genommen hat.
Es gibt weder viele Norweger in der Schweiz, noch viele Schweizer in Norwegen, doch sie gleichen sich trotzdem, erklärt Ketil Djonne, Spezialist für Wirtschaftsmechanismen mit der EU.
«Ich bin erstaunt über die Gemeinsamkeiten unserer Länder: Die Grösse, die Bevölkerung, die Landschaft und die Berglermentalität, die Sorge für die Umwelt, aber auch die Sorgen betreffend Demokratie und Menschenrechte», so der Norweger, der seine Jugend in der Schweiz verbracht hat.
«Klar ist Norwegen ein Königreich, aber historisch gesehen ist die Struktur beider Länder seit dem Mittelalter sehr stabil. Heute geben sie sich grösstenteils euroskeptisch, hauptsächlich deshalb, weil sie beide reiche Länder sind.
Zwei reiche Neinsager
Diese Einschätzung teilt Gilbert Casasus, Direktor des Zentrums für Europastudien an der Universität Freiburg, der die Formel des «Nein der Reichen» eingeführt hat.
«Wenn es zwei gute Beispiele gibt, die Nein zur EU sagen, sind es die beiden Reichen, Norwegen und die Schweiz, zwei Länder mit dem höchsten Lebensstandard auf dem Kontinent», erklärt der Politologe.
Die Wirtschaftskraft der beiden Länder ist vergleichbar: Das eine hat Gold in seinen Tresoren, das andere schwarzes Gold vor seinen Küsten. Dank ihrer stabilen Währungen gelten sie als sichere Häfen, die nicht teilen wollen und die im Vergleich zu den anderen Ländern auf dem Kontinent sehr solide sind.»
Und Sverdrup ergänzt: «Mit einem sehr hohen Brutto-Inlandprodukt (BIP) und dieser seltsamen Ähnlichkeit in ihren ‹Offshore-Tätigkeiten› (Banken und Öl) wie auch den sehr tiefen Arbeitslosenquoten haben sie naheliegende Gründe, nicht der EU beizutreten.»
Eine weitere Gemeinsamkeit laut dem norwegischen Experten: Mit der starken Subventionierung ihrer Landwirtschaft schwimmen beide Länder gegen den Strom.
Trotzdem weisen die Schweiz und Norwegen eine sehr unterschiedliche wirtschaftliche Struktur auf: «Norwegen ist mit einem Anteil von 44% am Bruttosozialprodukt viel höher industrialisiert als die Schweiz mit 27%», erklärt Rodolfo Laub vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco).
Verschiedene Visionen
Auf dem politischen Parkett sind die Ähnlichkeiten differenzierter. «Die Schweizer hängen mehr an ihrer Unabhängigkeit, sind individualistischer und viel weniger beschäftigt mit der Rolle des Staates als die Norweger», erklärt Ulf Sverdrup.
Der Politologe erklärt auch, dass die Rechte in Norwegen historisch einen EU-Beitritt befürwortet, im Gegensatz zur Schweizer konservativen Rechten. «Wir haben weder einen Christoph Blocher noch einen Jean-Marie Le Pen, die gegen die EU sind. Die Fortschrittspartei (Fremskrittpartiet, FrP) beispielsweise unterstützt die freie Marktwirtschaft und damit auch einen freien europäischen Markt.»
Staatsform: Konstitutionelle Monarchie
Staatsoberhaupt: König Harald V.
Arbeitslosenrate: 3,2% (Schweiz: 3,7%)
Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Einwohner: 56’875 Dollar (Schweiz: 43’100 Dollar)
Staatschulden: 60,4% des BIP (Schweiz: 38,8%)
Exporte: 120,5 Mrd. Dollar (82,8% in die EU); wichtigster Gas- und Erdöllieferant Europas, deckt rund 30% des gesamten Verbrauchs von Frankreich, Grossbritannien und Deutschland
(Zahlen 2009, Staatssekretariat für Wirtschaft, Seco)
Norwegen trat 1992 dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) bei, der sich aus den damaligen EU-Mitgliedländern sowie Liechtenstein und Island zusammensetzte.
Norwegen lehnte in den Volksabstimmungen von 1972 und 1994 einen EU-Beitritt ab. Laut Umfragen sind heute über 70% der Norweger gegen einen EU-Beitritt.
Bundespräsidentin Doris Leuthard stattet Norwegen vom 14. bis 15. Oktober einen offiziellen Besuch ab. Sie wird vom Königspaar Harald und Sonja empfangen.
Die 1847 begonnenen Beziehungen zwischen den beiden Nicht-Mitgliedstaaten der EU laufen über die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA) und die Welthandelsorganisation (WTO).
Die Schweiz ist der neunzehntwichtigste Handelspartner von Norwegen.
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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