Schweiz verstärkt Jagd auf Kriegsverbrecher
Im ablaufenden Jahr wurden mehrere Verfahren gegen mutmassliche Kriegsverbrecher eröffnet. Darunter sind auch Fälle mit Bezug zur Schweiz. Mit der Schaffung einer besonderen Task Force will die Schweiz deren Verfolgung verstärken.
Im Fokus der internationalen Strafgerichtsjustiz stehen insbesondere zwei Namen: Khaled Nezzar und Erwin Sperisen.
Dem ehemaligen algerischen Verteidigungsminister werden Verbrechen im Bürgerkrieg in den 1990er-Jahren vorgeworfen. Sperisen, ex-Polizeichef Guatemalas und schweizerisch-guatamaltekischer Doppelbürger, werden Verstösse gegen die Menschenrechte zur Last gelegt.
Die Anstösse zu den Verfahren stammten von Menschenrechts-Organisationen wie Track Impunity Always (Trial) aus Genf und Amnesty International.
Seit vergangenem Juli operiert in der Schweizer Bundesanwaltschaft eine neue Einheit: das Kompetenzzentrum Humanitätsverbrechen. Dieses besteht aus zwei Ermittlern der Bundespolizei und drei Rechtsexperten. Sie unterstützen internationale Verfahren gegen Personen, die beschuldigt werden, Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt zu haben.
«Endlich nimmt die Schweiz ihre internationalen Verpflichtungen wahr», sagt Trial-Direktor Philip Grant. 2001 hatte die Schweiz das Statut ratifiziert, das zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Rom führte. Die nötigen Gesetzesänderungen zur Verfolgung von Straftaten gegen die Interessen der Völkergemeinschaft traten setzte Bern Anfang 2011 in Kraft.
Halten sich solche Verdächtige in der Schweiz auf, kann die Schweiz gegen sie ein Verfahren eröffnen. Zuvor war dies nur möglich, wenn die Person enge Beziehungen zur Schweiz besass.
2001 hat die Schweiz als 43. Land das Statut ratifiziert, das zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in den Haag führte. Die Gesetzesänderungen zur Verfolgung von Straftaten gegen die Interessen der Völkergemeinschaft traten Anfang 2011 in Kraft.
Seither können die Schweizer Untersuchungsbehörden Verfahren gegen Personen eröffnen, die der Verbrechen gegen die Menschheit beschuldigt werden und die sich in der Schweiz aufhalten. Zuvor war dies nur möglich, wenn die Person eine enge Beziehung zur Schweiz hatte.
Komplexer Fall
Khaled Nezzar bekam die Änderung als erster zu spüren. Im Oktober kam er nach Genf, wo sich der 75-Jährige medizinisch behandeln liess. Weil ihn die Organisation Trial und zwei Zeugen schwerer Verstösse gegen die Menschenrechte beschuldigen, wurde er verhaftet und verhört. Nach der Freilassung durch die Genfer Behörden soll er in seine Heimat zurückgekehrt sein.
Das Bundesgericht hat im November einen Antrag Nezzars abgelehnt, der verlangte, dass er nicht ausserhalb Algeriens verfolgt werden könne.
Dieser historische Entscheid machte den Weg für eine Anklage in der Schweiz frei. Eine solche wird aber nur möglich sein, wenn die Schweizer Ermittler genügend Beweismaterial zusammentragen können.
«Es wird seitens der algerischen Regierung nie eine Kooperation geben, deshalb wird es sehr schwierig werden», schätzt Philip Grant. Zwar seien immer mehr Zeugen zu einer Aussage bereit. «Sie stellen ihre Videos auf Youtube, aber wie kommt man an sie heran?», fragt der Trail-Direktor. Der andere Fall betrifft den guatemaltekischen Polizeichef von 2004 bis 2007.
Erwin Sperisen wurden Ende August in Genf verhaftet, wo er mit seiner Familie seit 2007 lebte. Der Vorwurf: Beteiligung an aussergerichtlichen Tötungen und anderen Menschenrechtsverletzungen im mittelamerikanischen Staat.
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Sperisen bestreitet alle Vorwürfe. Gemäss Behörden wird die Befragung im Genfer Gefängnis bis Ende Februar 2013 dauern. Guatemala hatte im Sommer 2010 internationale Haftbefehle gegen Sperisen und 18 weitere Personen ausgestellt. Einer der Gesuchten floh nach Spanien, ein anderer befindet sich in Österreich.
«Möglicherweise wird es neben den Prozessen in Guatemala selber zu drei Prozessen kommen, die gleichzeitig in drei verschiedenen Ländern stattfinden werden», sagt Grant.
Khaled Nezzar (2011, Algerien)
Jagath Dias (2011, Sri Lanka)
George W. Bush (2011, USA)
Bouguerra Soltani (2009, Algerien)
Erwin Sperisen (2008, Guatemala)
M.G. (2007, Somalia)
W.G. (2006, Afghanistan)
X. (2004, Algerien)
Habib Ammar (2003, Tunesien).
(Quelle: Trail)
«Nur ein Kratzen an der Oberfläche»
Seit der wegweisenden Verurteilung von Fulgence Niyonteze 2001 wegen Beteiligung am Genozid in Ruanda wurde in der Schweiz niemand mehr wegen Verbrechen gegen das Völkerrecht verurteilt.
Es ist laut Bundesanwaltschaft nicht bekannt, wie viele mutmassliche Kriegsverbrecher sich aktuell in der Schweiz aufhalten. Das Kompetenzzentrum Humanitätsverbrechen befasst sich mit acht Fällen mit Bezug zur Schweiz, sagte Jeannette Balmer, Sprecherin der Bundesanwaltschaft. Aber nur zwei der Beschuldigten würden in der Schweiz leben.
Grants Trial-Organisation sammelt ihre Informationen auf eigene Faust. Das Resultat sind aktuell sechs Fälle. «Aber wir kratzen nur an der Oberfläche», so Grant.
Zeugenaussagen aus einem bestimmten Land, dessen Namen er nicht nennen will, würden darauf hinweisen, dass sich eine «sehr grosse Zahl» von mutmasslichen Kriegsverbrechern in der Schweiz, Italien, Frankreich und Grossbritannien aufhalten würden.
Aktivisten wie Grant stellen der neuen Einheit der Schweizer Ermittlungsbehörde ein gutes Zeugnis aus. Das neue Gesetz müsse aber noch besser umgesetzt werden, fordern sie.
Sorgen punkto Kommunikation und Geld
In der Schweiz sind Migrationsbehörden und Staatsanwaltschaften zur gegenseitigen Information verpflichtet. Wird eine Person Verbrechen gegen die Menschenrechte verdächtigt, ist der Informationsaustausch zwingend. Laut Nichtregierungs-Organisationen geschieht dies aber nicht systematisch. Weil die Verfahren geheim sind, seien Überprüfungen zudem unmöglich.
Sorgen bereitet Grant auch das Geld. «Wenn die Staaten anerkennen, dass sie einen Teil der Verantwortung tragen sollten, müssen sie die finanziellen Mittel für die Untersuchungen bereitstellen.»
(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)
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