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Schweizer Anti-Terror-Gesetz: Wer wird alles zum Gefährder?

Ti-press / Alessandro Crinari

Gefährlich, ineffektiv und unprofessionell: Die Kritik am neuen Schweizer Anti-Terror-Gesetz ist vernichtend. Es definiere Terrorismus zu umfassend, was politische Aktivisten gefährden könnte, sagen Experten. UNO-Sonderberichterstatter Nils Melzer erachtet es zudem als unwirksam im Kampf gegen Terror.

«Wir befürchten, dass das neue Anti-Terror-Gesetz tamilische Aktivisten ins Visier nehmen wird», sagt Nitharsan*, ein Tamile aus Basel, der in der Schweiz geboren wurde und aufwuchs. Er kämpft mit einer tamilischen Jugendorganisation für die Selbstbestimmung der Minderheit in Sri Lanka.

«Die srilankische Regierung betrachtet uns wegen unserer politischen Aktivitäten als Terroristen», sagt Nitharsan. Deshalb vermeidet er es, in sein Heimatland zu reisen, wo er unter dem srilankischen Anti-Terror-Gesetz verhaftet werden könnte. Diese Rechtsgrundlage wurde nach den Terroranschlägen in Colombo im Jahr 2019 erweitert. Die neuen Bestimmungen werden von Menschenrechts-Aktivisten kritisiert, da befürchtet wird, dass damit gegen politisch Andersdenkende vorgegangen werden könnte.

Seit der Annahme des Bundesgesetzes über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) am 13. Juni befürchtet Nitharsan, dass sein Aktivismus auch dazu führt, dass er von der Schweiz auf eine Liste «potenzieller Terroristen» gesetzt wird.

Und wenn Informationen mit ausländischen Geheimdiensten geteilt werden, wären tamilische Aktivisten und deren Angehörige in Gefahr. «Leute, die nach Sri Lanka, aber auch nach Indien oder Malaysia in den Urlaub fahren, könnten verhaftet werden, einfach weil sie Verbindungen zu uns haben. Und in diesen Staaten wird auch gefoltert», sagt Nitharsan.

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«Ein gefährliches Gesetz»

Das Szenario wirkt alarmierend in einem demokratischen Rechtsstaat wie der Schweiz: Ein Bürger, der keine Verbrechen begangen hat, könnte als potenzieller Terrorist eingestuft werden.  

Der UNO-Sonderberichterstatter für Folter, der Schweizer Nils MelzerExterner Link, teilt die Befürchtungen des tamilischen Aktivisten. «Ich habe jeden Tag mit solchen Fällen zu tun», sagt Melzer: «Regelmässig verschwinden Menschen in Ländern, in denen die Menschenrechte wenig geachtet werden, nur weil sie auf einer Liste von potenziellen Terroristen standen, deren Herkunft nicht einmal bekannt ist.» Er führt das Beispiel Pakistan an, wo «im Durchschnitt zwei Menschen pro Tag von den Sicherheitsdiensten entführt werden».

Es könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Bund seine Informationen für sich behalte. «Heute können wir den Terrorismus nicht mehr alleine bekämpfen, sondern arbeiten mit Behörden anderer Staaten zusammen. Überall werden Listen ausgetauscht – diese Praxis ist sogar im Nachrichtendienst-Gesetz vorgesehen.»

Heikle Terrorismus-Definition

In der Praxis erlaubt das neue Gesetz dem Bundesamt für Polizei (Fedpol) eine Reihe von Massnahmen gegen verdächtige Personen: Diese können unter Hausarrest gestellt oder zu Befragungen gezwungen werden. Das Ziel, Terroranschläge zu verhindern, sei sicherlich lobenswert, sagt Melzer. «Ich selbst habe Bekannte durch Anschläge verloren. Ich sage nicht, dass wir nicht handeln sollen, aber wir sollten es auf eine professionelle Art und Weise tun», so Melzer.

«Die Schweiz hat eine breitere und vagere Definition von Terrorismus als jeder andere demokratische Staat.»

Nils Melzer, UNO-Berichterstatter für Folter

Das Hauptproblem sei die Definition von Terrorismus im neuen Gesetz. Dort steht: «Als terroristische Aktivität gelten Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung, die durch die Begehung oder Androhung von schweren Straftaten oder mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden sollen.»

In jedem anderen Land der Welt müsse ein Terrorist die Absicht haben, ein Gewaltverbrechen zu begehen, um aus politischen Gründen Angst zu verbreiten, sagt Melzer. «In der Schweiz kann man jetzt als potenzieller Terrorist bezeichnet werden, ohne dass man die Absicht hat, ein Verbrechen zu begehen. Die Schweiz hat eine breitere und vagere Definition von Terrorismus als jeder andere demokratische Staat», beklagt der Schweizer UNO-Berichterstatter.

Er befürchtet sogar, dass sich diktatorische Staaten von der Schweizer Gesetzgebung inspirieren lassen werden. «Wir geben ein schlimmes Beispiel ab.» Deshalb sei klar, dass Aktivistinnen und Aktivisten aller Couleur, ob nun tamilische, tibetische oder sogar Umweltaktivisten, auf der Grundlage dieser Definition beunruhigt sind, ergänzt Melzer.

Zweifel an Versprechen

Während der Kampagne zur PMT-Abstimmung versicherte Justizministerin Karin Keller-Sutter, dass die Massnahmen nicht für Aktivistinnen und Aktivisten gelten würden: «Um ein potenzieller Terrorist zu sein, muss man eine echte Gefahr darstellen», betonte sie in einem Interview gegenüber der Westschweizer Zeitung Le TempsExterner Link.

Auch das Fedpol versucht, zu beruhigen: «Radikale Meinungen reichen nicht aus, um polizeiliche Massnahmen zur Terrorismusbekämpfung anzuordnen», erklärt Sprecher Florian Näf gegenüber swissinfo.ch schriftlich. Das Gesetz sehe auch nicht die Erstellung von Listen potenzieller Terroristen vor: «Es ist immer eine Einzelfallbeurteilung, die auf beobachtbaren Fakten basiert», präzisiert der Sprecher.  

Experten gehen zwar davon aus, dass die Schweiz als demokratischer Staat ihr Anti-Terror-Gesetz diskriminierungsfrei anwenden wird, aber die rechtliche Grundlage, um etwa störende Aktivistinnen und Aktivisten ins Visier zu nehmen, wäre nun vorhanden. Melzer jedenfalls ist von den Beteuerungen der Regierung nicht überzeugt: «Anfangs wird das Gesetz sicher vernünftig angewendet, aber die Behörden werden den Spielraum, den sie erhalten haben, zunehmend auch auszunutzen.»

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Erinnerungen an die Fichenaffäre

Er betont, dass der Repressionsapparat vom Bund bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes eingesetzt habe. Zum Beispiel Ende Mai mit Razzien in Wohnungen von Klimaaktivisten, die zu einem Streik aufgerufen hatten. Eine gesellschaftliche Krise könne die politische Situation verändern und zu einer breiteren Anwendung solcher Gesetze führen, sagt der Sonderberichterstatter. «Man kann sich durchaus vorstellen, dass die Pandemie zu solchen Spannungen führt, so dass etwa Covid-19- oder Impfskeptiker als Terroristen bezeichnet werden.»

«In Frankreich waren vor allem die arabischen und muslimischen Gemeinschaften von den Massnahmen des Ausnahmezustands betroffen.»

Nadia Boehlen, Amnesty International Schweiz 

Nun sei es «sehr wichtig, Verordnungen einzuführen, die das Gesetz klarstellen und einschränken», ergänzt Melzer. Allerdings bezweifelt er, dass der Bundesrat dazu in der Lage ist. Der Sonderberichterstatter erinnert an den Fichenskandal von 1989, als bekannt wurde, dass der Staat 900’000 Bürgerinnen und Bürger bespitzelt hatte, oder an die Krypto-Affäre: «Diese Vorgänge haben gezeigt, dass die Regierung nicht immer weiss, was der Geheimdienst tut und ihn auch nicht so kontrollieren kann, wie das in einem Rechtsstaat geschehen sollte», sagt Melzer.

Beispiele aus Frankreich

Auch Frédéric Bernard, Professor für öffentliches Recht an der Universität Genf, sieht in dem neuen Gesetz eine Gefahr für den politischen Aktivismus. Das Phänomen sei bereits in Frankreich beobachtet worden. «Die Sondervollmachten für die Regierung nach den Terroranschlägen von 2015 wurden genutzt, um Klimaaktivisten unter Hausarrest zu stellen.» Bekannt wurde etwa der Fall des Umweltaktivisten Joël Domenjoud, über den Amnesty International auf ihrer Website berichtet hat.

Auch die Verantwortlichen bei Amnesty sind der Meinung, dass das Schweizer Anti-Terror-Gesetz der Willkür Tür und Tor öffnet. «Menschen laufen Gefahr, aufgrund diskriminierender Kriterien verhaftet zu werden», sagt Nadia Boehlen, Sprecherin der Schweizer Sektion. Frankreich habe das erlebt, sagt sie. «Vor allem die arabischen und muslimischen Gemeinschaften waren von den Massnahmen des Ausnahmezustands betroffen.»

Wie wirksam ist das Gesetz?

Viele Kritikerinnen und Kritiker bezweifeln zudem, dass das Gesetz terroristische Attacken auf Schweizer Boden verhindern kann. Die vorgeschlagenen Präventivmassnahmen seien zwar nicht grundsätzlich schlecht, sagt Sonderberichterstatter Melzer, aber sie kämen viel zu spät im Radikalisierungsprozess: Sie könnten nur «auf der Grundlage konkreter und aktueller Hinweise, dass die Person terroristische Aktivitäten durchführen wird», ergriffen werden.

«Man kann einen handlungsbereiten Terroristen nicht mit der Androhung eines Hausarrests von seinen Taten abbringen. Radikalisierte Menschen sind bereit, ihr Leben zu opfern», sagt Melzer.

*Name der Redaktion bekannt

(Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer)

(Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer)

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