Schweizer Armut menschenwürdiger als deutsche?
Die Berechnungs-Kriterien der deutschen Sozialhilfe, Hartz-IV genannt, garantierten ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht. Zu diesem Schluss kommt das Bundesverfassungsgericht in Deutschland. Trifft diese Kritik auch auf die Sozialhilfe in der Schweiz zu?
«Hartz-IV», benannt nach dem früheren VW-Manager und Kanzler-Berater Peter Hartz, ist in Deutschland der gängige Name für ein Programm zur Unterstützung von Langzeitarbeitslosen und Kleinstverdienern. Rund 6,7 Millionen Menschen erhalten solche Leistungen, unter ihnen 1,7 Mio. Kinder. Das umfangreiche deutsche Sozialhilfesystem verteilte zuletzt rund 50 Milliarden Euro (66 Mrd. Franken) pro Jahr.
Gegen die geltende Unterstützungs-Regelung geklagt hatten drei betroffene Familien. Sie hatten zum Beispiel darauf hingewiesen, dass ein Erwachsener monatelang mit einem Paar Schuhen auskommt, während Kinder zu bestimmten Zeiten alle paar Wochen aus den ihren herauswachsen.
Am Dienstag haben die Familien vor dem Verfassungsgericht in wesentlichen Punkten Recht bekommen. Die Richter kritisieren aber nicht die Höhe der Leistungen, sondern die Berechnungsregelungen.
Diese Kriterien verstiessen zum Teil gegen den Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, seien nicht transparent, sondern «Schätzungen ins Blaue hinein», sagen die Richter.
Beanstandet hatten sie unter anderem, dass Kinder je nach Alter Anspruch auf 60 bis 80% der Sozialleistungen eines Erwachsenen hätten, mit dem absurden Resultat, dass zum Beispiel auch Babies Zuwendungen für Tabak und Alkohol erhielten.
Der Realität werde damit nicht Rechnung getragen – zum Beispiel dem Umstand eben, dass Kinder häufiger als Erwachsene neue Kleider bräuchten oder dass Bildungsausgaben anfielen.
Hartz-IV gewährleiste den betroffenen Familien und insbesondere den Kindern nicht ein «Mindestmass an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben».
Und wie steht es damit in der Schweiz?
Schweizer Regelsätze näher am wirklichen Bedarf
In der Schweiz liegt die Armutsgrenze bei 2360 Franken pro Monat: Dieser Richtwert der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) gilt als Basis für alle Beiträge für Grundbedarf, Kinderkosten etc. Wird er unterschritten, hat man Anspruch auf Sozialhilfe.
Der gesamtschweizerische Grundbedarf für eine Person ist auf 960 Franken festgelegt. Zwei Personen kommen auf 1469 Franken, drei auf 1786 Franken. Das ist aber nicht alles: Je nach Wohnkanton gelten für die gesamte individuelle Berechnung der Sozialhilfebeiträge entsprechend unterschiedliche Wohnungs-, Heizungs- und Gesundheits-Kostenvorgaben.
Daraus resultieren dann je nach Ort und Haushaltsform unterschiedliche Existenzminima: zum Beispiel für einen Alleinerziehenden mit zwei Kindern rund 3700 Franken.
«Die Pauschale beruht auf einer Berechnung, bei der davon ausgegangen wird, was bei einer Armenhaushaltung als erforderlich erachtet wird», sagt Skos-Präsident Walter Schmid gegenüber swissinfo.ch. Anders als in Deutschland gebe es Zulagen für die (Wieder-)Integration in den Arbeitsmarkt.
Ähnlich sei es bei den Leistungen für Kinder: Dort geht man allerdings nicht von einzelnen Kindern aus, sondern von einem Mehrpersonen-Haushalt. Die Pauschale, die sich daraus errechnet, nimmt mit der Grösse des Haushaltes zu.
Dabei geht es nicht nur um die materielle Armut. Kinder von Armen haben auch schlechtere Bildungschancen und nehmen weniger am gesellschaftlichen Leben teil. Anders als in Deutschland werden Kinder in der Schweiz den Erwachsenen gleichgesetzt, und bei der Schulausbildung wird der Grundbedarf teils übernommen.
Wie viele sind arm?
Wie viele Personen in der Schweiz gelten nun wirklich als arm? Wegen der grossen Unterschiede im Land ist es nicht möglich, in der Schweiz die genaue Anzahl von Armen festzulegen. Gemäss Bundesamt für Statistik (BFS) beträgt die Armutsquote landesweit 8,8%, die Working-Poor-Quote 4,4% – im Durchschnitt. Rechnet man jedoch Kinder mit ein (bei Alleinerziehenden), verdreifacht sich die Armutsquote auf 26,3%.
Allein von den Personen im Erwerbsalter, also von den 20- bis 59-Jährigen, leben laut BFS rund 380’000 am Existenzminimum oder darunter. Walter Schmid schätzt die Zahl jener Personen, die am Existenzminimum leben, sogar auf 600’000.
Laut dem Soziologieprofessor Ueli Mäder, gibt es in der Schweiz gesamthaft rund 900’000 Arme. Diese Zahl gibt auch Caritas an, wobei sie darunter 260’000 Kinder anführt.
Wie auch immer: Die Zahlen zeigen klar, dass Kinder ein wichtiger Armutsfaktor sind. Sowohl in der Schweiz wie auch in Deutschland. Deshalb stellt sich die Frage nach der Art, wie die Sozialhilfe ausbezahlt wird. Diese Kriterien entscheiden mit, ob das Existenzminimum auch als menschenwürdig oder soziokulturell akzeptabel ausfällt.
Föderalismus gestattet eine gewisse Ungleichheit
Ist es denkbar, dass auch in der Schweiz die Kriterien der Sozialhilfe beim Bundesgericht eingeklagt werden könnten? Grundsätzlich, meint Skos-Präsident Walter Schmid gegenüber swissinfo.ch, sei eine Verletzung der Gleichbehandlung einklagbar.
In der konkreten Situation der Schweizer Sozialhilfe jedoch, so Schmid, wäre ein ähnlicher Entscheid des Schweizer Bundesgerichts wie des deutschen Gerichts kaum möglich: Hierzulande seien die Regelsätze für Einzelpersonen, für Kinder etc. anders geordnet als in Deutschland.
Die Gleichbehandlung als Verfassungs-Forderung werde durch den Föderalismus aber nicht verletzt, sagt Schmid. «Sie würde dann verletzt, wenn innerhalb eines Kantons unterschiedlich entschieden wird.» Der Föderalismus zeige sich ja nicht nur bei der Sozialhilfe, sondern auch bei Stipendien, Ergänzungs- und anderen Leistungen, Abgaben oder Steuern.
«Alle diese Ungleichbehandlungen sind Teil des föderalen Systems und somit akzeptiert.»
Alexander Künzle, swissinfo.ch
Das Existenzminimum in der Schweiz ist keine fixe Summe. Es setzt sich zusammen aus Wohnkosten, Grundbedarf für Lebensunterhalt und medizinische Grundversorgung.
Das Existenzminimum berechnet sich je nach Anzahl Personen, die zusammen leben, anders.
Innerhalb der Kantone variiert der Mietkosten-Faktor von 0,73 bis 1,33.
Auch bei den Krankenkassen-Prämien wird pro Kanton ein Durchschnitt genommen.
In Deutschland belaufen sich die Kosten für die Sozialhilfe («Harz IV») auf rund 66 Mrd. Franken, wobei diese Summe für rund 6, 7 Mio. Bezüger reichen muss. Dies entspricht beinahe der gesamten Bevölkerung der Schweiz.
In der Schweiz gibt es laut Soziologieprofessor Ueli Mäder oder laut Caritas rund 900’000 Arme.
Das Bundesamt für Statistik weist die Zahl der Working Poors mit fast 200’000 aus, also ohne Kinder und Familienmitglieder.
Working Poor sind als Personen definiert, die über 90% arbeiten und dennoch unter dem Sozialhilfe-Ansatz verdienen. Alleinerziehende können wegen der Kinderbetreuung nicht ganztags arbeiten.
Gemäss Skos beträgt in der Schweiz die Armutsgrenze etwa 2300 Fr. Diese Summe dient aber nur als Berechnungs-Basis für alle Beiträge, für den Grundbedarf, Kinderkosten, etc. Wird sie unterschritten, hat man Anspruch auf Sozialhilfe.
In Deutschland liegt das Existenzminimum gemäss «Hartz IV» bei 524 Fr. für Alleinstehende, 1000 Fr. für Paare, plus Wohnungs-, Heizungs- und Krankenversicherungs-Kosten.
In der Schweiz wird der Grundbedarf einer Person auf 960 Fr. festgesetzt, was auch mit den höheren Lebensunterhaltskosten zu tun hat.
Für zwei Personen im gleichen Haushalt wird der Grundbedarf auf 1469 Fr. gesetzt, für drei auf 1786 Fr. und für vier auf 2054 Fr. Ebenfalls wird für Wohnung und Nebenkosten aufgekommen sowie für die Krankenversicherung.
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