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Schweizer Atomausstieg in Etappen

Der Nationalrat will die Laufzeit von Atomkraftwerken nicht generell beschränken, jedoch den Bau neuer AKW verbieten. Für die ältesten AKW soll nach 60 Jahren Schluss sein – für Beznau I und II wäre das 2029 und 2031. Für die jüngeren Kraftwerke Gösgen und Leibstadt wurde keine maximale Lebensdauer festgelegt.


Das Atomkraftwerk Beznau mit seinen beiden Meilern ist das älteste AKW der Welt, das noch in Betrieb ist. Keystone

Mit diesen Entscheiden hat der Nationalrat am Montag die Beratungen zur Energiestrategie 2050 nach insgesamt rund 20 Stunden abgeschlossen. Das Geschäft geht nun an den Ständerat.

Zur Diskussion standen verschiedene Varianten. Generell gegen strengere Regeln stellten sich die Schweizerische Volkspartei (SVP) und die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP.Die Liberalen). Auch der Bundesrat hält die heutige Regel für ausreichend, wonach die AKW so lange laufen dürfen, wie die Aufsichtsbehörde ENSI sie als sicher einstuft.

Für strengere Regeln setzten sich die Vertreter der Sozialdemokratischen Partei (SP), der Grünen, der Grünliberalen und der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) ein. In der Schweiz stünden die weltweit ältesten Atomkraftwerke, gaben sie zu bedenken. Das Risiko steige mit dem Alter, daher müssten auch die Sicherheitsanforderungen steigen.

Energiestrategie 2050

In der Gesamtabstimmung hiess der Nationalrat das erste Massnahmenpaket zur Energiestrategie 2050 mit 110 zu 84 Stimmen bei 1 Enthaltung gut. Es geht nun an den Ständerat. Der Nationalrat ist in weiten Teilen dem Bundesrat und seiner vorberatenden Kommission gefolgt.

Er hat sich damit einverstanden gezeigt, die Produktion von Strom aus erneuerbaren Energien stärker zu fördern. Ausserdem sollen Windturbinen oder Wasserkraftwerke künftig unter Umständen auch in Naturschutzgebieten gebaut werden dürfen.

Gleichzeitig will der Nationalrat das Stromsparen und die Energieeffizienz fördern. Er hat sich für ein Bonus-Malus-System ausgesprochen: Elektrizitätswerke, die ein Netz betreiben, sollen Geld verdienen können, wenn sie weniger Strom verkaufen.

Ja sagte der Nationalrat ausserdem zu mehr Bundesgeldern für Gebäudesanierungen und strengeren Regeln für Autoimporteure.

(Quelle: SDA)

Nein sagte der Nationalrat zu Vorschlägen für eine Laufzeitbeschränkung für alle Atomkraftwerke. Er setzte aber eine Beschränkung für die ältesten AKW – jene, die bereits mehr als 40 Jahre in Betrieb sind, wenn das Gesetz in Kraft tritt: Sie sollen höchstens 60 Jahre laufen dürfen.

Die ältesten AKW sind Beznau I und II (1969 und 1971) sowie Mühleberg (1972). Sie laufen seit 45, 43 und 42 Jahren. Für Mühleberg hat die Betreiberin BKW die Stilllegung allerdings angekündigt, das AKW soll 2019 vom Netz gehen. Damit würden die neuen Regeln die Beznau-Betreiberin Axpo betreffen. Beznau I müsste 2029 vom Netz gehen, Beznau II im Jahr 2031. Durchgesetzt hat sich hier eine Minderheit aus Vertretern von Mitte- und Linksparteien.

Pressestimmen

«Ein klares Bekenntnis gegen die Atomkraft sieht anders aus», kommentiert die Aargauer Zeitung den nationalrätlichen Entscheid. Im Kanton Aargau befinden sich mit Beznau I und II sowie Leibstadt drei der fünf Schweizer Atomkraftwerke.

Die Kompromisslösung «mit dem unmöglichen Namen ‹Langzeitbetriebskonzept› ist grundsätzlich zu begrüssen», allerdings sei der Ausstiegsentscheid «halbherzig – denn auch wenn Beznau nach 60 Jahren vom Netz muss, können die Atomkraftwerke neueren Datums damit zumindest in der Theorie ewig weiterlaufen.»

Der Nationalrat habe am Montag «die grösste Lücke der Energiestrategie 2050» gefüllt – «zumindest teilweise», kommentiert der Tages-Anzeiger. «Die neue Regelung, wonach AKW-Betreiber periodisch eine Planung vorlegen müssen, wie sie ihre Meiler fit halten wollen, macht den Atomausstieg konkreter.»

Dass sich der Stromkonzern Axpo –Betreiberin von Beznau, des ältesten noch betriebenen Kernkraftwerks der Welt, und Teilhaberin an den Meilern Leibstadt und Gösgen – «so vehement gegen die Regelung wehrt, kann nur heissen, dass sie sich vor einer stärkeren Aufsicht fürchtet. Das schafft nicht unbedingt Vertrauen».

Der Nationalrat hätte laut Tagi noch einen Schritt weiter gehen und den zwei Reaktoren von Beznau engere Schranken setzen sollen. «Sollte das älteste AKW der Welt tatsächlich noch so lange weiterlaufen, steigt die Gefahr eines Unfalls. Die reiche, dicht besiedelte Schweiz sollte es sich leisten, das Risiko Atomkraft nicht bis aufs Letzte auszureizen. Und Uralt-Reaktoren deshalb rechtzeitig abschalten.»

Der Bund aus Bern hingegen, der sich in seinem Kommentar auf das dortige AKW Mühleberg konzentriert, ist froh, dass der Nationalrat den schärferen Antrag, die Laufzeiten auf 50 Jahre zu beschränken, nicht angenommen hat. «Sonst müssten die Werke in Beznau und in Mühleberg fast gleichzeitig abgeschaltet werden. Der wegfallende Strom müsste zu einem grossen Teil durch Atomstrom aus Frankreich und durch Kohlestrom aus Deutschland ersetzt werden – das kann nicht der Sinn der Energiewende sein.»

Atomausstiegsinitiative als Trojaner?

Insgesamt gesehen habe die Linke in der Debatte eine bittere Pille schlucken müssen, meint die Aargauer Zeitung: «Obwohl sie in der Energiestrategie Teilsiege erringen konnte, muss sie ausgerechnet in einem ihrer zentralen Anliegen die Segel streichen.»

Doch vielleicht komme ihr nun das Volk zu Hilfe: «Die Chancen für ein Ja zur Atomausstiegsinitiative der Grünen sind mit dem gestrigen Tag auf jeden Fall nicht geringer geworden.» Dieses Anliegen fordert, die Laufzeit der Atomkraftwerke auf 45 Jahre zu beschränken.

Für den Tages-Anzeiger aber könnte es kontraproduktiv sein, sollte diese Initiative vors Volk kommen: «Das wahrscheinliche Nein würde den Gegnern der Energiewende in die Hände spielen – und so den angestossenen Prozess bremsen, den die Politik bislang in bemerkenswert konstruktiver Weise vorangetrieben hat.»

Die Schweiz und der Atomstrom

1945/1946: Der Bund setzt eine Studienkommission für Atomenergie unter dem Vorsitz von ETH-Professor Paul Scherrer ein. Von der Öffentlichkeit unbemerkt, dienen ihre Forschungen auch militärischen Interessen im Hinblick auf eine atomare Bewaffnung der Schweiz.

17. Mai 1957: Der amerikanische Forschungsreaktor «Saphir» wird in Betrieb genommen. 1960 folgt «Diorit», ein rein schweizerischer Eigenbau.

21. Januar 1969: Ein schwerer Unfall im Versuchsreaktor Lucens VD lässt den Traum einer selbst entwickelten Schweizer Reaktorlinie platzen. Es kommt zu einer teilweisen Kernschmelze.

1. September 1969: Beznau I, das erste Atomkraftwerk der Schweiz, geht ans Netz. 1971 folgt Beznau II, 1972 Mühleberg, 1979 Gösgen und 1984 Leibstadt.

1. April 1975: Die Anti-Atom-Bewegung, die sich ab Ende der 1960er-Jahre formierte, erlebt ihren ersten Höhepunkt: In Kaiseraugst beginnt die elfwöchige Besetzung des Baugeländes für das geplante AKW.

18. Februar 1979: Eine erste Anti-Atom-Initiative wird an der Urne relativ knapp mit 51,2% Nein verworfen.

28. März 1979: Reaktorkatastrophe im AKW Three Mile Island bei Harrisburg (USA).

23. September 1984: Die Atominitiative II (keine weiteren AKW) und die Energie-Initiative werden vom Volk mit 55 beziehungsweise 54% Nein verworfen.

26. April 1986: Atomkatastrophe von Tschernobyl (UdSSR/Ukraine)

1988: Angesichts des massiven Widerstandes beerdigt der Bund die AKW-Projekte Graben und Kaiseraugst.

23. September 1990: In der Abstimmung wird die Moratoriumsinitiative für einen zehnjährigen AKW-Baustopp mit knapp 55% angenommen, die Atom-Ausstiegsinitiative mit 53% verworfen.

22. Oktober 1998: Der Bundesrat spricht sich grundsätzlich für einen «geordneten Rückzug aus der Kernenergie» aus.

2000: Das Ende des zehnjährigen AKW-Moratoriums und das Inkrafttreten des CO2-Gesetzes (Senkung des Treibhausgasausstosses) geben den Atomkraft-Befürwortern neuen Auftrieb: Sie preisen die Atomenergie als saubere Alternative zur fossilen Energie an.

18. Mai 2003: Die Atominitiativen «Strom ohne Atom» (für einen Atomausstieg) und «Moratorium Plus» (für ein weiteres zehnjähriges AKW-Moratorium) werden mit 66 respektive 58% Nein verworfen.

21. Februar 2007: Der Bundesrat beschliesst, die bestehenden Kernkraftwerke zu ersetzen oder durch Neubauten zu ergänzen.

Juni/Oktober 2008: Die Energie-Konzerne Alpiq, Axpo und BKW reichen beim Bund Gesuche für die geplanten Ersatz-AKW in Mühleberg BE, Beznau AG und Gösgen SO ein.

11. März 2011: Ein Erdbeben mit Tsunami in Japan zerstört das Atomkraftwerk Fukushima, es kommt zu grossräumigen Verstrahlungen.

14. März 2011: Als Sofortreaktion auf die Ereignisse in Japan sistiert das UVEK die drei Rahmenbewilligungsverfahren für den Ersatz von Kernkraftwerken in der Schweiz.

25. Mai 2011: Der Bundesrat spricht sich für einen längerfristigen Atomausstieg aus. Die bestehenden Atomkraftwerke sollen «am Ende ihrer sicherheitstechnischen Betriebsdauer» stillgelegt und nicht ersetzt werden. Das Parlament billigt im September die Ausstiegspläne prinzipiell.

16. November 2012: Den Grünen gehen die Pläne zu wenig weit. Sie reichen ihre Atomausstiegsinitiative ein, die für die AKW maximale Laufzeiten von 45 Jahren fordert.

4. September 2013: In einem ersten Massnahmenpaket zuhanden des Parlaments konkretisiert der Bundesrat, wie er den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie bewerkstelligen will.

8. Dezember 2014: Der Nationalrat beschliesst, das Verbot neuer Rahmenbewilligungsverfahren für AKW im Gesetz zu verankern.

(Quelle: SDA)

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