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«Direkte Demokratie ermöglicht einen permanenten nationalen Dialog»

Livia Leu
Die Schweizer Botschafterin in Frankreich, Livia Leu, nahm am Kongress der Schweizer Vereine in Frankreich teil. Er fand vom 26. bis am 28. April in Ajaccio auf Korsika statt. swissinfo.ch

Die Schweizer Investitionen in Frankreich florieren, und die angespannten diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern haben sich beruhigt. Die Schweiz und ihr grosser Nachbar erleben eine Phase "intensiver" Beziehungen, sagt die Schweizer Botschafterin in Frankreich, Livia Leu. Für Paris ist es aber schwierig, sich für eine Lösung in der "Gelbwesten"-Krise von der direkten Demokratie inspirieren zu lassen.

Frankreich zieht nicht nur immer mehr Schweizerinnen und Schweizer an, sondern auch Schweizer Unternehmen. Im letzten Jahr wurden 72 Investitionsprojekte registriert, 22% mehr als 2017, wie ein aktueller Bericht des Wirtschaftsministeriums zeigt.

Trotz der sozialen Krise, die Frankreich seit mehreren Monaten erschüttert, steht es um die bilateralen Beziehungen zwischen Bern und Paris gut, nachdem die wichtigsten Streitfragen beigelegt werden konnten.

Fragen des grenzüberschreitenden Verkehrs und der Grenzgänger gehören weiterhin zu den zentralen Anliegen der Schweizer Botschafterin in Frankreich, Livia Leu. Sie äusserte sich dazu während des Kongresses der Schweizer Vereine in Frankreich, der vom 26. bis 28. April in Ajaccio stattfand.

swissinfo.ch: Könnte es in der Schweiz zu einer ähnlichen Krise kommen, wie sie Frankreich mit den «Gelbwesten» erlebt?

Livia Leu: Zwei verschiedene Systeme können nicht einfach so miteinander verglichen werden. Ich bin aber der Ansicht, dass die direkte Demokratie der Schweiz es möglich macht, einen permanenten nationalen Dialog zu führen. Bürger und Bürgerinnen haben die Möglichkeit, in vielen Bereichen durch Volksinitiativen oder Referenden Vorschläge einzubringen oder ihre Ablehnung auszudrücken. In Frankreich führten die Proteste der «Gelbwesten» zu einer «grossen nationalen Debatte«. In der Schweiz ist dieser Dialog zwischen dem Staat und dem Volk stärker institutionalisiert.

swissinfo.ch: Bei seiner Medienkonferenz am 25. April lehnte Präsident Emmanuel Macron die Etablierung eines Bürgerinitiative-Referendums ab, eine der Hauptforderungen der Protestbewegung.  Ist Frankreich nicht bereit zur Einführung einer Volksinitiative nach Schweizer Vorbild?

L. L.: Jedes Land muss sein eigenes politische System definieren. Unser System ist von der Vergangenheit geprägt, genau wie das von Frankreich geprägt ist von seiner Geschichte. Ein Staat kann nicht einfach ein Instrument unverändert übernehmen, das anderswo funktioniert. Wir können uns aber voneinander inspirieren lassen.

Präsident Emmanuel Macron schlägt vor, das Referendum für eine so genannte geteilte Initiative zu erleichtern [indem er vorschlägt, die für eine Abstimmung notwendige Unterschriftenzahl auf eine Million zu senken]. Diese Art Referendum wurde vor etwa zehn Jahren neu in die französische Verfassung aufgenommen, bisher allerdings noch nie angewendet. Diese Massnahme könnte vielleicht die Nutzung dieses Instruments erleichtern.

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swissinfo.ch: Im Verlauf der Präsidentschaft von Emmanuel Macron nahm das Interesse von Unternehmen aus der Schweiz an Frankreich zu. 2018 stiegen die Schweizer Investitionen in Frankreich gegenüber dem Vorjahr um 22%. Ist Frankreich attraktiver geworden?

L. L.: Einige Änderungen, zum Beispiel im Arbeitsrecht, haben in Frankreich ein günstigeres Geschäftsumfeld geschaffen. Die Reformen, die der Präsident zum Zeitpunkt seiner Wahl angekündigt hat, und die er weiter verfolgen will, haben sicher eine ermutigende Rolle gespielt. Es ist jedoch schwierig, einen konkreten Grund für diesen Anstieg von Schweizer Investitionen zu identifizieren, der oft mit verschiedenen Faktoren zusammenhängt.

Die geografische Nähe begünstigt eindeutig die Dynamik und Entwicklung wirtschaftlicher Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Ein weiterer Trumpf ist, dass wir die gleiche Sprache und die gleiche Kultur teilen.

Es ist für eine Firma aus der Schweiz nicht sehr schwierig, zu entscheiden, wie sie in Frankreich vorgehen soll. Auch wenn administrativ nicht alles ganz gleich abläuft, ist es nicht so, wie wenn man in einen weit entfernten Markt investiert, in dem man sich zuerst einmal orientieren sollte. In Frankreich sind wir ein wenig zu Hause.

swissinfo.ch: Unter Präsident Nicolas Sarkozy waren die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und Frankreich oft turbulent, gefolgt von einer deutlichen Verbesserung in der fünfjährigen Amtszeit von François Hollande. Wie sehen die bilateralen Beziehungen zwischen den beiden Ländern unter Präsident Emmanuel Macron aus?

L. L.: Im Moment würde ich sagen, die Beziehungen sind intensiv und funktionieren gut. In der Vergangenheit gab es tatsächlich einige Spannungen, aber mittlerweile sind diese Streitigkeiten beigelegt. Insbesondere konnten wir im Fall des Flughafens Basel-Mülhausen eine Lösung finden.

Im Steuerbereich waren die Beziehungen längere Zeit angespannt. Unterdessen sind wir jedoch zum automatischen Informationsaustausch übergegangen und konnten eine neue Seite aufschlagen, auch wenn einige Dossiers aus der Vergangenheit noch nicht zu einem Abschluss gebracht wurden.

«Einige Änderungen, zum Beispiel im Arbeitsrecht, haben in Frankreich ein günstigeres Geschäftsumfeld geschaffen.»

swissinfo.ch: Was sind aktuell die vorrangigen bilateralen Themen?

L. L.: Aufgrund der Dichte der Beziehungen gibt es viele sehr technische Dossiers, die kontinuierlich weiterentwickelt werden müssen, zum Beispiel die Frage des Eisenbahnverkehrs. Ende Jahr wird die neue S-Bahn Léman-Express fertiggestellt [ein Eisenbahn-Netzwerk, das die Schweizer Kantone Waadt und Genf sowie die französischen Regionen Auvergne Rhône-Alpes, Ain und Haute-Savoie bedienen wird]. Es ist das erste Mal, dass ein internationales S-Bahn-Netz in Betrieb genommen wird.

Es gilt viele Details zu beachten. So müssen etwa die Triebwagen und Züge kompatibel sein. Die Entwicklung von grenzüberschreitenden Verbindungen ist teuer und funktioniert nicht so einfach, ist aber ein wichtiges Thema.

Französische Grenzgängerinnen und Grenzgänger, die jeden Tag zur Arbeit in die Schweiz kommen, können den Zug nehmen, statt mit dem Auto zu fahren, was das Verkehrsaufkommen und den CO2-Ausstoss verringert. Man muss immer darauf achten, dass sich die Beziehungen im Geiste eines konstruktiven Dialogs entwickeln.

swissinfo.ch: Die Entschädigung von arbeitslosen Grenzgängern gab zu reden. Die Europäische Union (EU) lehnte kürzlich eine Reform ab, welche die Regeln in diesem Bereich geändert und die Schweiz Hunderte von Millionen Franken hätte kosten können. Gute Nachrichten für die Eidgenossenschaft?

L. L.: Die Eidgenossenschaft war an diesen Diskussionen nicht beteiligt und kann daher nicht Stellung nehmen. Die Debatten zeigten aber, dass nicht alle betroffenen Staaten mit den geplanten Änderungen einverstanden waren, die nun vorerst auf einen späteren Zeitpunkt verschoben wurden. Im Grenzgänger-Dossier gibt es immer viele Punkte zu diskutieren, von Arbeitslosigkeit über Steuern, Wohnen hin zu Schulen und anderem mehr.

swissinfo.ch: Der Anteil der Steuern französischer Grenzgänger, der an die Schweiz geht [Retrozessionssatz], wird hier regelmässig in Frage gestellt. Der Kanton Jura forderte jüngst eine Erhöhung. Sollten die Abkommen mit Frankreich neu verhandelt werden?

L. L.: Für den Moment steht dies nicht auf der Tagesordnung. Es geht um ein Abkommen zwischen den beiden Staaten, das in Kraft ist und funktioniert, wenn auch nicht immer zur vollen Zufriedenheit Aller. Bevor man eine Änderung von bestehenden Abkommen vorschlägt, muss man eine Interessenabwägung vornehmen, da auch die andere Partei einverstanden sein muss.

swissinfo.ch: Nach einer Konsultationsphase sollte die Schweizer Regierung die Verhandlungen mit der EU rund um die Unterzeichnung eines institutionellen Rahmenabkommen bald fortsetzen. Ist Frankreich bereit, in diesem Dossier Zugeständnisse zu machen, wie dies im Zusammenhang mit dem Brexit der Fall war?

swissinfo.ch: In dieser Hinsicht hatten wir, wie ich es nenne, unsere kleine nationale Debatte. Da Frankreich gerade seine «grosse nationale Debatte» abgeschlossen hat, kann es verstehen, dass gewisse Dossiers manchmal mehr Zeit in Anspruch nehmen, um voranzukommen, als erwartet.

Unsere Partnerin bei den Verhandlungen über ein institutionelles Abkommen ist jedoch die EU und nicht Frankreich. Auch wenn Frankreich als Gründungsland und wichtiges Mitglied der EU Interesse an diesem Abkommen hat, das auf die Konsolidierung der gegenseitigen Beziehungen abzielt.

swissinfo.ch: Die Schweiz steht vor der Beschaffung eines neuen Kampfflugzeugs. Frankreich liegt mit dem Kampfjet Rafale im Rennen. Wäre es ein Affront für die europäischen Hersteller, falls sich die Schweiz für ein amerikanisches Modell entscheiden würde?

L. L.: Dies ist ein Dossier, dass seine Zeit braucht. Aktuell befinden wir uns in der Phase der technischen Evaluation der Offerten, ihrer Vor- und Nachteile. Das ist keine politische Entscheidung, aber natürlich zieht ein Land, das ein Angebot zum Verkauf von Flugzeugen unterbreitet hat, es vor, dass man diese kauft.

Livia Leu vertritt seit September 2018 als Botschafterin die Schweiz in Frankreich, als erste Frau auf diesem Posten in Paris. Sie gehört zu den wenigen Frauen, die in der Schweizer Diplomatie Spitzenposten belegen.

2009 hatte die damalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey sie bereits als erste Botschafterin der Schweiz nach Teheran entsandt. Dort vertrat Leu bis 2013 nicht nur die Interessen der Schweiz im Iran – sondern auch jene der USA, denn die Schweiz hat seit 1980 ein Schutzmachtmandat für die USA im Iran.

Vor dem Posten als Botschafterin in Paris arbeitete Livia Leu zuletzt als Delegierte des Bundesrats für Handelsverträge und Leiterin des Bereichs Bilaterale Wirtschaftsbeziehungen im Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO).

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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