Schweizer Clubs in Grossbritannien: Es herrscht dicke Luft
Vor den eidgenössischen Wahlen im Oktober ist SWI swissinfo.ch nach London gereist, um den Auslandschweizer:innen im Vereinten Königreich den Puls zu fühlen. Die Probleme im vom Brexit gezeichneten Land werden nicht weniger.
Trooping the Colour heisst die jährliche Zeremonie, mit der der offizielle Geburtstag des britischen Monarchen gefeiert wird. Eine königliche Prozession vom Buckingham Palace aus entlang der «Mall», begleitet von Armeeregimentern und Militärkapellen.
Die Parade, die erste für König Charles III, findet am 17. Juni statt. Es ist ein brütend heisses Wochenende; mehrere Soldaten fallen in Ohnmacht.
Am selben Tag versammeln sich nur wenige hundert Meter weiter etwa 70 Schweizer:innen aus dem gesamten Vereinigten Königreich in der Schweizer Botschaft.
Anlass ist die Jahreshauptversammlung der Federation of Swiss Societies in the United Kingdom (FOSSUK)Externer Link. Niemand fällt hier in Ohnmacht, aber es geht teilweise heiss zu und her.
«Die Situation ist furchtbar»
«Das ist nicht mehr FOSSUK», sagt etwa ein aufgebrachter Stammgast und beklagte die Abwesenheit von Gesichtern aus den Schweizer Klubs im ganzen Land. «Die Situation ist furchtbar», sagt ein anderer.
«London, wir haben ein Problem», stimmt Filippo Lombardi zu. Der Präsident der Auslandschweizer-Organisation (ASO) ist eigens nach London gereist.
«Wir haben ein Kommunikationsproblem, denn wie viele der 800’000 Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer wissen überhaupt, dass es eine Schweizer Gemeinschaft gibt? Wie viele Ihrer 40’000 Schweizer Mitbürgerinnen und Mitbürger in Grossbritannien wissen, dass es eine Organisation gibt, die sie vertritt?», so Lombardi.
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Das letzte Mal, dass der Autor an einer FOSSUK-Jahrestagung teilgenommen hat, war 2009 in Cardiff gewesen.
Eine der grössten Klagen war damals, wie schwer es sei, junge Mitglieder zu gewinnen. Fast 15 Jahre später ist es nicht einfacher geworden, die vielen Schweizer Klubs im Vereinigten Königreich am Leben sowie in der Dachorganisation zu halten.
«Die Leute wollen den Klubs nicht beitreten, weil es einen Mitgliedsbeitrag gibt – obwohl er nur einen Fünfer (fünf Pfund) beträgt», sagt die unermüdliche Präsidentin von FOSSUK, Ané-Mari Peter.
«Ich glaube, wir haben es hier mit einer Facebook-Generation zu tun, die nicht mehr so viel Wert auf die ganze Struktur und die Formalitäten von früher legt – man muss Mitglied in einem Ausschuss sein und sich anmelden. Die Leute sagen: ‹Im Ernst, es ist einfacher, ins Nobu (ein Promi-Restaurant) zu kommen›.»
FOSSUK, die Föderation der Schweizer Gesellschaften im Vereinigten Königreich, ist eine freiwillige, gemeinnützige, überparteiliche Organisation, die die Kommunikation zwischen den Schweizer Clubs und der breiteren Gemeinschaft der im Vereinigten Königreich lebenden und arbeitenden Schweizer:innen fördert.
Ursprünglich wurde sie 1949 in London als «The Presidents› Assembly» gegründet und später auf der Jahreshauptversammlung 1965 umbenannt.
FOSSUK und die ihr angeschlossenen Gesellschaften, Clubs und Institutionen unterstehen den allgemeinen Richtlinien der in Bern ansässigen Auslandschweizer-Organisation (ASO).
FOSSUK umfasst derzeit sechs stimmberechtigte, zahlende Mitglieder: Unione Ticinese, New Helvetic Society, Edinburgh Swiss Club, East Surrey Swiss Club, Swiss Club Guernsey, Swiss Club Manchester.
FOSSUK hat zwei assoziierte Mitglieder (Beitragszahler, aber ohne Stimmrecht): die Schweizerische Wohltätigkeitsgesellschaft und die Swiss Church London.
Gemeinsam mit ihren Mitgliedern organisiert FOSSUK mehrere Diskussionsforen (persönlich und online) und arbeitet an zukünftigen Veranstaltungen wie einer Jungbürgerfeier.
FOSSUK plant und beaufsichtigt auch die alle vier Jahre stattfindende Wahl der fünf britischen Delegierten für den Auslandschweizerrat (CSA) – die offizielle Vertretung der in Grossbritannien lebenden und arbeitenden Schweizer:innen, ihrer Ansichten und Probleme. Die aktuelle Amtszeit läuft von 2021-2025.
Peter betonte, dass der Zustand der Schweizer Clubs in Grossbritannien «absolut hervorragend» sei und es viele informelle Clubs sowie Menschen gebe, die den Austausch suchen. «Ich habe zum Beispiel eine neue Schweizer WhatsApp-Gruppe in London, die kein Interesse daran hat, ein formalisierter Club zu werden, aber wir haben eine tolle Zeit.
Neulich waren wir in Greenwich und haben gepicknickt. Ich treffe also viel mehr Schweizerinnen und Schweizer. Aber die von Bern auferlegte Struktur – dass man eine Art offizielle Kapazitäten haben muss – ich denke, dafür sind die Tage gezählt.»
Lombardi erkennt die Bedeutung der «lebendigen» Schweizer Vereine an, betont aber, dass sie sich zusammenschliessen müssen, um innerhalb der Schweizer Gemeinschaft im Ausland Gewicht zu haben.
«Nationale Dachverbände wie FOSSUK sind das Instrument, um diese Vereine zu verbinden, ihnen mehr Gewicht zu verleihen und bewährte Verfahren, Erfahrungen und Projekte auszutauschen.»
«Wählen ist wertvoll»
Ein Zehntel der Schweizer:innen lebt im Ausland und ist über die ganze Welt verstreut – nur «fünf Länder haben keine Schweizer Bürgerinnen und Bürger: ein paar Inseln im Pazifik und Usbekistan», wie ein Redner in London sagt.
Von diesen 800’000 Swiss Abroad ist etwa ein Viertel als Wähler:innen registriert, und von diesen wiederum stimmt etwa ein Viertel tatsächlich ab. Wie kann man also mehr Menschen dazu bringen, wählen zu gehen?
«Ich denke, darauf gibt es zwei Antworten: Einerseits gibt es die administrative Seite, und wir versuchen wirklich, die Beseitigung von Hürden zu fördern. So müssen sich Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer nicht mit endlosen Registrierungsverfahren herumschlagen», sagt die ehemalige FOSSUK-Delegierte Michelle Hufschmid.
«Und dann ist da noch die andere Sache, dass man als normale Wählerin oder normaler Wähler oft denkt, seine Stimme sei unwichtig. Aber wir versuchen wirklich, jeder einzelnen Person zu sagen, dass sie, auch wenn sie im Ausland ist, immer noch mit der Schweiz verbunden ist und in irgendeiner Weise betroffen sein könnte. Also geht wählen und gebt eure Stimme ab, denn das ist wirklich das Herzstück der Demokratie.»
Michelle Hufschmid im Video-Interview:
Die Vizepräsidentin und Sekretärin von FOSSUK, Joelle Nebbe-Mornod, betont den Unterschied zwischen im Ausland lebenden Schweizer:innen und Brit:innen, die im Ausland leben.
«Ich denke, dass das Wahlrecht sehr wertvoll ist, weil ich so viele Briten getroffen habe, die so verärgert sind, dass sie ihr Wahlrecht verlieren [nachdem sie 15 Jahre lang ausserhalb des Vereinigten Königreichs gelebt haben]. Wohingegen wir unseres behalten dürfen. Und das ist erstaunlich. Aber wir können es nicht als selbstverständlich ansehen, denn es könnte sich jederzeit ändern. Die Schweiz könnte eines Tages dagegen stimmen, also müssen wir verantwortungsvoll damit umgehen und es nutzen», sagt sie.
Joelle Nebbe-Mornod im Interview:
E-Voting-Versuch
Eine grosse Veränderung bringen dürfte das E-Voting. Am Tag nach dem FOSSUK-Treffen haben drei Kantone – Basel-Stadt, Thurgau und St. Gallen – an einem E-Voting-Versuch teilgenommen.
Rund 3600 Auslandschweizer:innen stimmten an einer eidgenössische Volksabstimmungen online ab, zum ersten Mal seit 2019, als die Technologie aufgrund von Sicherheitsbedenken vorübergehend auf Eis gelegt wurde.
Die Ergebnisse waren im Allgemeinen positiv, und am 16. August erklärte die Regierung, dass dieselben drei Kantone den Versuch (für einen begrenzten Teil der Wählerschaft) an den eidgenössischen Wahlen am 22. Oktober fortsetzen könnten.
Franz Muheim, FOSSUK-Delegierter und Mitglied des ASO-Vorstands, vergleicht die Online-Wahl mit dem Online-Banking. «Ich bin Physiker und war dabei, als das World Wide Web geboren wurde, und in den ersten ein oder zwei Jahren hatten wir es für uns allein – es war eine tolle Zeit», sagt er.
«Wir sprachen darüber, was zu tun sei, und jemand sagte: ‹Die Banken könnten das gebrauchen›, und wir stürzten uns alle sofort auf ihn und sagten: ‹Wenn du zu einer Bank gehst und das vorschlägst, wirst du sofort gefeuert›. Innerhalb von zehn Jahren wurde E-Banking dann zu einer möglichen Lösung.
Muheim räumte ein, dass die elektronische Stimmabgabe aufgrund der Notwendigkeit der Geheimhaltung und der Sicherheit eine Herausforderung darstelle, aber er sei sich sicher, dass sie kommen werde. «Es wird Zeit brauchen, aber wir werden alle auf E-Voting zurückblicken, so wie wir es heute mit E-Banking tun.»
E-Voting ist auch eines der Hauptthemen für die FOSSUK-Delegierte Loredana Guetg Wyatt, nebst anderen Herausforderungen, mit denen Schweizer Bürger:innen im Vereinigten Königreich konfrontiert sind, wie z.B. der Renten- und Krankenversicherung.
Loredana Guetg Wyatt im Interview:
Das Leben in Grossbritannien
Die ersehnte und oft hinausgeschobene Einführung der Online-Wahl betrifft Auslandschweizer:innen auf der ganzen Welt. Die Expats in Grossbritannien indes haben auch einige ganz spezifische Probleme.
Der Ruf des Landes in Bezug auf politische Kompetenz und Reife wurde durch eine Reihe von Premierministern, die in Ungnade zurückgetreten sind, zerstört, und Grossbritannien befindet sich derzeit in einer Lebenskostenkrise, die durch den Brexit noch verschärft wurde.
Das Votum für den Austritt aus der Europäischen Union im Jahr 2016 hat die Wirtschaftsleistung «erheblich verschlechtert», so der wirtschaftliche KonsensExterner Link.
«Reden wir gar nicht erst über mein Geschäft», sagt Nebbe-Mornod, Grossbritanniens grösste Importeurin von Alpenweinen, mit einem Seufzer. «Die Kosten für alles, was man importiert, ob es nun etwas ist, das ich importiere, oder etwas, das wir kaufen und das importiert wurde, sind gestiegen.»
Darüber hinaus gibt es negative soziale Auswirkungen. «Die Fremdenfeindlichkeit hat zugenommen», sagt sie. «Ich hatte zuvor nie erlebt, dass jemand böse zu mir war, aber im Zug – kurz vor dem Brexit – war das nicht mehr so. Wenn man am Telefon Deutsch gesprochen hat, wurde man beschimpft. Das ist ein bisschen beunruhigend.»
«Es ist schwer, die Britinnen und Briten zu kritisieren, da die Schweiz auch nicht in der EU ist, aber es hat alles komplizierter gemacht. Und wir wissen noch nicht, wie sich das Ganze auswirkt, weil die britische Regierung noch nicht alle Änderungen umgesetzt hat. Sie schieben sie immer wieder hinaus.»
Die einigermassen gute Nachricht aus Sicht der Swiss Abroad ist, dass die Brit:innen auf der Strasse von der Kritik an der Schweiz – wegen der Weigerung der Schweizer Regierung, die Wiederausfuhr von Waffen in die Ukraine zu genehmigen, oder wegen der Implosion der Credit Suisse Externer Link– eher unbeeindruckt sind.
Die Schweizer Sorgen seien das Letzte, woran die angeschlagenen Brit:innen denken, meint Loredana Guetg Wyatt. «Bei all den Krisen und Skandalen hierzulande haben sie die Schweiz wahrscheinlich nicht gross beachtet.»
«Brillante Zukunft»
Filippo Lombardi hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht so sehr die Britinnen und Briten auf die Schweiz aufmerksam zu machen, sondern die in Grossbritannien lebenden Schweizer:innen aufeinander und auf die verschiedenen Institutionen, die ihnen zur Verfügung stehen, wie zum Beispiel die App SwissInTouchExterner Link oder das Informations- und Beratungszentrum SoliswissExterner Link.
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«Jeder von uns nimmt Einfluss», sagt er. «Nutzen Sie alle Kanäle, um die Flamme der Schweizer Identität zu verbreiten, den Willen, zusammenzuhalten, zusammenzuarbeiten und das Land zu repräsentieren.»
Er betont, dass die Expats nicht nur am 1. August, dem Schweizer Nationalfeiertag, die Flagge für die Schweiz zeigen sollten. «Wir müssen es das ganze Jahr über tun. Jeder und jede von uns sollte jeden Tag ein Botschafter oder eine Botschafterin sein, um diese Nachricht an andere Schweizerinnen und Schweizer weiterzugeben und um unsere Gemeinschaft zu einer lebendigen Community mit einer glänzenden Zukunft zu machen!»
Voller Tatendrang wird nach der Versammlung beschlossen, ein Schweizer Restaurant aufzusuchen und, ja, ein Käsefondue zu essen. Einige würden vielleicht behaupten, dass eine Hitzewelle nicht der richtige Zeitpunkt für 200 Gramm geschmolzenen Käse ist.
Aber in Anwendung der grundlegenden Schweizer Eigenschaft, keine Szene zu machen, hat sich auch der Autor dieses Textes darauf eingelassen. Wenn man das Restaurant St. Moritz in Soho betritt und von dem überwältigenden Geruch von Gruyère erschlagen wird, könnte man wirklich in Ohnmacht fallen.
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