Schweizer Demokratie schliesst de facto viele Auslandschweizer aus
Die Fünfte Schweiz ist verbittert: Wegen Verspätungen bei der Postauslieferung der Wahlunterlagen haben erneut zahlreiche Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer bei den Eidgenössischen Wahlen nicht mitentscheiden können. Noch schlimmer lief es bei den anschliessenden Stichwahlen für den Ständerat. Deshalb wird erneut der Ruf laut nach einer raschen Einführung der elektronischen Stimmabgabe.
Selbst Kandidaten für den Nationalrat, die im Ausland leben, waren betroffen: Weil sie die Wahlunterlagen nicht rechtzeitig genug erhalten hatten, konnten sie am 18. Oktober ihre politischen Rechte nicht ausüben. Sie meldeten sich bei kantonalen und Gemeindebehörden, bei der Auslandschweizer-Organisation (ASOExterner Link) oder bei ihren Parteien. swissinfo.ch sind einige Fälle von Kandidaten bekannt, die in Asien und Lateinamerika leben.
Demokratie mit zwei Geschwindigkeiten
Von den Ende 2014 etwa 747’000 Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern waren mehr als 583’000 volljährig und damit stimm- und wahlberechtigt.
Im Gegensatz zu ihren im Inland lebenden Landsleuten sind die Expats nicht automatisch in den Stimm- und Wahlregistern ihrer Kantone registriert, sondern müssen sich einschreiben lassen.
1992, als das briefliche Stimm- und Wahlrecht auf nationaler Ebene eingeführt wurde, waren etwa 14’000 Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer eingetragen. Bis heute hat sich diese Zahl verzehnfacht: Bei den Eidgenössischen Wahlen 2015 waren 147’757 Personen registriert.
Auf kantonaler Ebene können Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer gegenwärtig lediglich in 12 von 26 Kantonen per Brief abstimmen.
Schweizerinnen und Schweizer im Ausland aus allen Kantonen dürfen bei den nationalen Parlamentswahlen ihre Stimme für die Nationalratswahl abgeben. Die Ständeratswahl allerdings ist für sie nur in 14 Kantonen möglich.
In jenen Kantonen, wo die im Ausland lebenden Bürgerinnen und Bürger auch über das kantonale Stimm- und Wahlrecht per Korrespondenz verfügen, verschärfte sich das Problem der Postauslieferung bei den Stichwahlen für den Ständerat ein paar Wochen später sogar noch.
In einigen Kantonen waren die Lieferfristen für die Wahlunterlagen bereits für die lokalen Wählerinnen und Wähler grenzwertig. Für die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer sei es eine «praktisch unmögliche Mission» gewesen, sagte Danielle Gagnaux-Morel, Staatskanzlerin des Kantons Freiburg, gegenüber dem Westschweizer Radio RTS. In ihrem Kanton fand die Stichwahl am 8. November statt, drei Wochen nach den Wahlen.
Doch auch in jenen Kantonen, in denen die Stichwahl am 15. November durchgeführt wurde, waren die Fristen knapp und die Chancen für die Auslandgemeinde, die Wahlunterlagen rechtzeitig zu erhalten, gering.
Ob es den Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern, die am 22. November in den Kantonen Aargau und Zürich wählen werden, besser ergehen wird? Sicher ist, dass auch beim Kanton Aargau Beschwerden einiger Expats eingegangen sind, weil diese die Unterlagen für die Wahlen vom 18. Oktober nicht rechtzeitig erhalten haben. Dies sagt Thomas Wehrli, Leiter des kantonalen E-Voting-Projekts.
Die Spitze des Eisbergs
Über die Beschwerden wird keine Statistik geführt. Doch diese Klagen seien lediglich die Spitze des Eisbergs, sind sich Wehrli und die ASO-Medienverantwortliche Anne-Catherine Clément einig.
Der Grossteil jener, die ihre Wahlunterlagen nicht rechtzeitig erhalten haben, sagt nichts. Aussagekräftig ist aber die Teilnahmequote der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer im Kanton Aargau: Sie lag am 18. Oktober bei 20,8%, während bei den letzten Wahlen 2011 fast 31% teilgenommen hatten. Damals konnten sie ihr Wahlrecht per Internet wahrnehmen.
In Freiburg stand die Möglichkeit des E-Votings vor vier Jahren nicht zur Verfügung. Man stellte jedoch einen Teilnahmerückgang der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer gegenüber den nationalen Abstimmungen des vergangenen Jahres fest, bei denen sie elektronisch abstimmen konnten. Ähnlich wie im Kanton Aargau liegt dieser Rückgang bei etwa 10 Prozentpunkten.
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Angst vor Hackern verzögert Stimmabgabe per Internet
«Es ist ein enormer Rückgang, und er ist ganz sicher auf das Fehlen des E-Votings zurückzuführen», sagt Wehrli. Es handle sich hier um eine ernste Angelegenheit. Bei den nationalen Wahlen vom 18. Oktober waren Aargau, Freiburg und weitere sieben Kantone, die sich zum «Consortium Vote électronique» zusammengeschlossen hatten, von der Landesregierung (Bundesrat) zurückgepfiffen worden. In ihrem System sei «eine Lücke beim Schutz des Stimmgeheimnisses» festgestellt worden, hatte es geheissen.
Die neun Kantone befinden sich gegenwärtig in einer Testphase, und es ist schwierig, abzuschätzen, wann sie wieder in der Lage sein werden, die Stimmabgabe über das Internet zu ermöglichen. Für den Aargau wird es «auf jeden Fall nicht 2016», sagt Wehrli.
Der Rückschlag könnte auch einen Dominoeffekt auf jene Kantone ausüben, die noch keine Erfahrungen mit diesem Kanal gemacht haben. Das Beispiel des Kantons Waadt spricht Bände: Die Kantonsregierung brachte einen BerichtExterner Link ins Parlament, in dem der 30. Juni 2021 als letzte Frist für einen Versuchsbetrieb genannt wird.
Nötiger denn je
Eine Aussicht, welche die ASO in einer MitteilungExterner Link «mit Bestürzung» zur Kenntnis nahm. «Die Verschiebung der elektronischen Stimmabgabe» sei «eine Katastrophe für die Auslandschweizer», betonte die Organisation. Sie drängt die Kantone zu einer raschen Einführung der elektronischen Stimmabgabe. E-Voting «bleibt unsere Priorität», ergänzt Clément.
Die ASO-Sprecherin präzisiert, die Organisation sei sich bewusst, dass die gesetzlich bestimmten Fristen den kantonalen und kommunalen Verwaltungen verunmöglichten, die Stimm- und Wahlunterlagen fristgerecht zu verschicken. «Und genau deshalb, weil dies für die Staatskanzleien ein unlösbares Problem darstellt, kämpft die ASO seit Jahren vehement für die Einführung der elektronischen Stimmabgabe. Nur so könne das Problem gelöst werden.»
Diese Meinung teilen die internationalen Sektionen der vier grössten Schweizer. Parteien, der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP)Externer Link, der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP.Die Liberalen)Externer Link, der Sozialdemokratischen Partei (SP) Externer Linkund der Schweizerischen Volkspartei (SVP)Externer Link. Für sie ist die sofortige Einführung der elektronischen Stimmabgabe für alle Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer ein vorrangiges Ziel.
«Der Bundesrat hatte dies als Ziel für die Mehrheit der Auslandschweizer anlässlich der Wahlen 2015 festgeschrieben», erinnert die Generalsekretärin der SVP International, Miriam Gurtner. Sie bedauert, dass es anders gelaufen ist. «Jetzt wollen wir, dass dieses Ziel für die Wahlen 2019 erreicht wird», fordert sie.
Für die Übergangsphase prüft die SVP International alternative Lösungen. Eine FrageExterner Link der SVP-Nationalrätin Céline Amaudruz beantwortete Bundeskanzlerin Corina Casanova sinngemäss: Das Gesetz erlaube es nicht, die Stimm- oder Wahlunterlagen elektronisch zu verschicken, und nicht einmal die Abgabe der Stimm- und Wahlzettel bei der diplomatischen Vertretung statt bei den Schweizer Gemeinden.
Doch die internationalen Sektionen der vier grossen Parteien geben nicht auf und suchen nach Möglichkeiten, die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Stimmabgabe per Post möglichst rasch zu überwinden, während man auf die Stimmabgabe per Internet wartet.
Bei der SVP International steht das Thema auf der Tagesordnung, die FDP.Die Liberalen International erwähnt, dass sich freisinnig-liberale Parlamentarier explizit für die Verteidigung der Interessen der Auslandschweizer einsetzten.
Die SP International vertieft das Problem in einer Arbeitsgruppe. «Wir sind daran, Empfehlungen auszuarbeiten», sagt Peter Hug, Internationaler Sekretär. Daneben hält er nicht zurück mit scharfer Kritik an jenen Kantonen, in denen die Wählerverzeichnisse noch völlig dezentral organisiert seien und es Gemeinden gebe, welche die Fristen zum Versand von Stimm- und Wahlunterlagen nicht einhalten würden.
«Es bräuchte tiefgreifende Reformen, um ein Minimum an Übereinstimmung zu erreichen. Doch in jenen Kantonen, wo der politische Wille dazu fehlt, bewegt sich rein gar nichts», klagt Hug.
(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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