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Schweizer, die den Dalai Lama nicht verehren

"Keine Anzeichen eines kulturellen Genozids": Das Ehepaar Salamin über seinem Tibet-Album. swissinfo.ch

Vor 50 Jahren kamen die ersten tibetischen Flüchtlinge in die Schweiz. Aus diesem Anlass weilt der Dalai Lama, der in der Schweiz sehr populär ist, vom 7. bis 11. April in Zürich. Bei Schweizern, die in China leben, steht er nicht sehr hoch im Kurs.

«Von einem kulturellen Genozid zu sprechen, ist völliger Quatsch», sagt Christoph Müller, Gründer und Leiter der Reiseagentur Hiddenchina, die der Deutschweizer seit sieben Jahren in Peking betreibt.

Obwohl er selber erst einmal in Tibet war, kennt Müller die Region gut. Dank grosser Unterstützung aus Peking entwickle sie sich gut, und die Traditionen würden respektiert, betont er.

«Alles ist in Tibetisch und Mandarin angeschrieben, neue Gebäude müssen sich an die lokale Architektur anlehnen, und die Infrastruktur wird rasend schnell ausgebaut», resümiert der Reiseanbieter.

Die Sesshaftmachung habe das Leben der ehemaligen Nomaden erleichtert, dank fliessendem Wasser und Heizung.

Der Reiseverkäufer

Auch die Vorwürfe einer galoppierenden Sinisierung sind laut Christoph Müller falsch, denn die Tibeter machten 93 bis 95% der Bevölkerung aus. Die offizielle chinesische Statistik geht von 92% Tibetern aus.

Laut anderen Quellen dagegen beträgt der Anteil der angesiedelten Han-Chinesen wesentlich mehr als zehn Prozent, namentlich in der Hauptstadt Lhasa.

Viele Chinesen würden Arbeiten ausführen, für die sich die Einheimischen zu schade seien. Müller anerkennt zwar, dass viele Tibeter einen chinesischen Maulkorb beklagten, aber dennoch die Präsenz der Chinesen schätzen würden.

Mehr als der Hälfte der Tibeter ginge es überdies «besser als beispielsweise den Bewohnern der Vorstädte Pekings».

Aus Müllers Sicht ist der Westen ein «Opfer der Propaganda des Dalai Lama, während die Informationen aus China viel zuverlässiger sind». Die internationalen Preise und Anerkennungen für Frieden und Umweltbewusstsein seien alle widerrechtlich erworben, schiebt er nach.

Der Chinese

«Der Dalai Lama ist ein grosser Mensch mit viel Karma», sagt ein Chinese aus Peking, der nicht genannt sein will. Der vierzigjährige Buddhist hat Tibet schon fünfmal bereist.

In China herrscht Glaubensfreiheit, zumindest theoretisch. «Ist man nicht religiös, hat man das Gefühl, frei zu sein. Hat man aber einen Glauben, spürt man zahlreiche Grenzen. Ich muss vorsichtig sein. Sind wir mehr als fünf oder sechs Personen, die sich zum Gebet versammeln, droht uns ein Eingreifen der Polizei», sagt der Mann, der gesteht, dass er über Bilder und Schriften des Dalai Lama verfügt – verbotenerweise.

«Nicht der Dalai Lama ist das Problem Tibets, sondern der Mangel an Autonomie. Alle Entscheide werden durch Chinesen gefällt. Es herrscht das Gesetz des Stärkeren, alle religiösen Aktivitäten müssen vorgängig genehmigt werden, ein normaler Vorgang in einer Diktatur, wie sie China immer gewesen ist.»

Was sagt er zum vielzitierten kulturellen Genozid? «Ein solcher fand während der Kulturrevolution statt, wie China dies auch eingestanden hat. Seit zehn oder 15 Jahren hat sich die Lage etwas gebessert. Die Gläubigen haben mehr Freiheiten, und man hat einen Teil der Klöster wieder aufgebaut. Es ist aber nicht wie zuvor, die Tibeter haben weniger Freiheiten.»

Der Aluminiumverkäufer

Ivan Salamin ist da anderer Meinung. «Die Religionsfreiheit ist heute in Tibet ebenso gewährleistet wie in China», sagt der Leiter der China-Filiale des Aluminiumherstellers Alcan.

Gattin Catherine Salamin äussert sich noch deutlicher: «Ich denke, dass es nicht die geringsten Anzeichen für einen kulturellen Genozid gibt, denn Kultur und Tempel werden geschützt.»

Natürlich verändere sich das Alltagsleben, aber nicht aufgrund von Unterdrückung durch eine Regierung, sondern, weil sich die Sitten in der Gesellschaft änderten.

Vor knapp drei Jahren in China angekommen, machte das Ehepaar 2008 eine grosse Reise durch Tibet, welche sie in einem Fotobuch festhielten. «Der Tourist wird zum Pilger auf der Suche nach dem Absoluten», lautet eine Bildzeile.

Als das Ehepaar in China ankam, waren sie voller Vorurteile. «Aber im täglichen Kontakt mit Land und Leuten wurde uns allmählich bewusst, dass wir völlig falsch lagen.»

Dies treffe auch für Touristen zu, sagt Reiseunternehmer Christoph Müller. «Wer zum ersten Mal nach China kommt, ist angenehm überrascht.»

Die Erfahrungen vor Ort würden zahlreichen Schweizern die Augen öffnen, dass der Dalai Lama die Vorurteile sozusagen als Wasser auf die eigene Mühle leite.

Alain Arnaud, Peking, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen; Renat Künzi)

Die Schweizer Regierung empfängt den Dalai Lama nicht – «aus terminlichen Gründen», wie Aussenministerin Micheline Calmy-Rey erklärte.

Der Bundesrat habe ihn in den vergangenen Jahren viermal empfangen, betonte sie.

Bern ist einerseits unter Druck der chinesischen Regierung, andererseits von Seiten der tibetanischen Lobbyisten in China.

Letztere kritisieren die Haltung der Schweizer Regierung.

Demgegenüber wird sich die höchste Schweizerin, Nationalratspräsidentin Pascale Bruderer, mit dem Gast treffen. Damit soll Peking nicht erzürnt werden.

Das erste Parlament der jungen Tibeter Europas tagt vom 9. Bis 11. April in Zürich.

Die Teilnehmenden diskutieren neue Wege zu einer pro-tibetischen Bewegung.

In der Schweiz leben rund 4000 Tibeter. Mit 400 Mitgliedern ist der Verein Tibeter Jugend in Europa (VTJE) der wichtigste Länderableger Europas.

1970 gegründet, wird die Organisation von der zweiten Generation der Exiltibeter geführt, die für Gewaltlosigkeit und Autonomie Tibets eintritt.

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