Als Schweizer Firmen ihre Flucht ins Ausland planten
Wie lassen sich Schweizer Firmen vor einer "sowjetischen Invasion" schützen? Während des Kalten Kriegs trafen die Eidgenössischen Behörden – in enger Absprache mit Wirtschaftskreisen – detaillierte Vorkehrungen, um die Niederlassungen von Schweizer Firmen ins Ausland zu verlegen. Doch war es gar nicht so einfach, die geeigneten Länder zu finden.
«Auf eine kurze Formel gebracht liegt Sinn und Zweck der Sitzverlegung darin, einerseits schweizerische Firmen und die in ihnen verkörperten Interessen im Kriegsfall unserer Volkswirtschaft zu erhalten und dem eventuellen Zugriff einer Besetzungsmacht nach Möglichkeit zu entziehen, anderseits aber auch, die Voraussetzungen dafür schaffen, dass schweizerische Vermögenswerte im Falle einer Okkupation unseres Territoriums durch eine Kriegspartei von der Gegenpartei nicht als Feindsgut behandelt werden.»
Antrag Externer Linkdes Eidgenössischen Politischen Departements an den Bundesrat, 10. September 1959
Anfang Oktober 1959 machte sich eine Delegation mit Funktionären der Bundesverwaltung und Wirtschaftsrepräsentanten auf den Weg nach Kanada. Sie hatte den Auftrag, in Gesprächen mit einer kanadischen Delegation Möglichkeiten für Schweizer Firmen auszuloten, ihren Sitz vorübergehend nach Kanada zu verlegen, aber gleichzeitig eine juristische Person nach Schweizer Recht zu bleiben. Dies für den Fall, dass ein kriegerischer Konflikt die Integrität der Eidgenossenschaft bedrohen sollte.
Die Angelegenheit war äusserst delikat und komplex, weil sie unterschiedliche Rechtssysteme betraf und daher eine Reihe von Problemen politischer, rechtlicher und steuerlicher Art aufwarf. Doch aus Sicht der Bundesbehörden handelte es sich um einen wichtigen Baustein im komplexen System der Landesverteidigung.
«Diese Geschichte lässt sich nur im Lichte der Wahrnehmung einer unmittelbaren Bedrohung im Zeitalter des Kalten Kriegs verstehen», meint Sacha Zala, Direktor der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis). «Die Schweiz lebte in einem Zustand der ständigen Vorbereitung auf eine mögliche Aggression», fügt Zala an.
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Sorgen in der Welt der Wirtschaft
Bereits während des Zweiten Weltkrieges hatte der Bundesrat Dekrete verabschiedet, welche die Sitzverlegung von Firmen zum Gegenstand hatte. Nur wenige Jahre nach Kriegsende, 1949, beschäftigte sich die Regierung erneut mit dieser Frage und reagierte damit auf Sorgen aus der Finanz- und Wirtschaftswelt in Bezug auf die internationale politische Entwicklung.
Die Schlussfolgerungen einer von der Regierung beauftragen Expertenkommission flossen dann im April 1957 in zwei Bundesratsbeschlüsse ein, zum einen betreffend «vorsorgliche Schutzmassnahmen für juristische Personen, Personengesellschaften und Einzelfirmen» sowie zum zweiten «über den Schutz von Wertpapieren und ähnlichen Urkunden durch vorsorgliche Massnahmen».
Das Problem liess sich natürlich nicht einseitig durch die Schweiz lösen. Bereits ab 1951 hatte sich das Eidgenössische Politische Departement (EDP) an seine ausländische Vertretungen gewandt, um die Möglichkeiten für eine hypothetische Sitzverlegung auszuloten. Die Sondierungen betrafen die USA, Kanada, Australien und Lateinamerika, aber auch einige europäische Staaten, vor allem solche mit Beziehungen zu ihren Kolonien.
Auf der Suche nach dem idealen Land
Im Jahr 1959 kam das EPD zum Schluss, «dass fast überall gewissen positiven Aspekten auch schwerwiegende Nachteile gegenüberstanden». In Bezug auf Lateinamerika lastete die politische Instabilität, in Bezug auf Australien die abgelegene geografische Position. Bei den USA wiederum störte ein allzu komplexes Rechtssystem; zudem fehlende Garantien des Kongresses zur Einhaltung der Verträge. In Südafrika barg die Rassenfrage ein Risiko, während im belgischen Kongo grosse Unsicherheit in Bezug auf die künftige Rechtsform bestand.
Einige positive Signale kamen aus Panama, doch in Bern blieb man zurückhaltend «angesichts der politischen Labilität» des Landes. Auch Curaçao, eine niederländische Karibikinsel, bot an, ein Gesetz zu erarbeiten, dass den Schweizer Erwartungen gerecht werden sollte.
Man kannte die Problematik dort aus eigener Erfahrung. Im 2.Weltkrieg war die Insel Sitz von niederländischen Firmen geworden, welche ihr Heimatland während der Besetzung durch die Nationalsozialisten verlassen hatten, darunter Philips. Doch für die Schweiz stellte die mögliche Abnabelung der Insel vom Mutterland eine zu grosse Unsicherheit dar.
Einigung mit Kanada
Am Ende blieb Kanada. Das Land stellte für die Bundesverwaltung sowie für die Wirtschaft der ideale Kandidat dar, sowohl wegen seiner politischen Stabilität und seines internationalen Prestiges als auch wegen seiner Nähe zu den Vereinigten Staaten. Zudem gab es in Kanada schon viele Tochtergesellschaften verschiedener Schweizer Unternehmungen. Schliesslich schien das Land vor möglichen Kriegsereignissen ziemlich sicher, auch wenn Bern die Risiken eines «Arktischen Krieges» nicht ausschloss.
Die Gespräche der Schweizer Delegation mit ihren kanadischen Partnern in Ottawa fanden am 14. Oktober 1959 mit einem Memorandum ein Ende, das den Stand der Diskussionen aufzeigte. In vielen Punkten hatte man sich geeinigt: Schweizer Unternehmen hätten ihren Sitz unter Beibehaltung ihrer Schweizer Rechtspersönlichkeit nach Kanada verlegen können, und das nordamerikanische Land bot den Vertretern des Managements Visaerleichterungen an.
Im Steuerfragen blieben Meinungsverschiedenheiten bestehen. Kanada bekräftigte entgegen den Schweizer Hoffnungen, dass Unternehmen für alle ihre gesamten Aktivitäten der kanadischen Besteuerung unterliegen würden.
Andocken bei anderen Ländern
Das Teilabkommen mit Kanada, für das von beiden Ländern maximale Verschwiegenheit galt, öffnete die Tür für weitere Sondierungen. Bereits Anfang 1960 kontaktierte das Eidgenössische Politische Departement die Schweizer Vertretung in Südafrika, um die Möglichkeiten einer ähnlichen Vereinbarung mit den Behörden in Pretoria zu prüfen. Wenige Monate später schickte Bern dem südafrikanischen Aussenministerium ein Memorandum, das den Inhalt der Angelegenheit effizient zusammenfasste.
Auch in den darauffolgenden Jahren kam es zu verschiedenen Kontaktaufnahmen mit möglichen «Asyl-Ländern» für die Schweizer Firmen. Nach einem vertraulichen Briefwechsel mit Australien kam es im Oktober 1968 zu einem ähnlichen Abkommen, wie es neun Jahre zuvor mit Kanada vereinbart worden war.
Häufig waren es die Unternehmen selbst, die sich in diese Angelegenheiten einschalteten. So spielte Nestlè eine wichtige Rolle in den Diskussionen mit Panama und Kanada. Die Fluggesellschaft Swissair deponierte 1968 beim EPD ihr Interesse für Gespräche mit Mexiko. 1974 informierte sich die Georg Fischer AG über den Stand der Diskussionen zur Sitzverlegung und deponierte ihr Interesse für Verhandlungen mit Brasilien.
Dekrete erst 2017 aufgehoben
Noch 1978 waren rund 90 Unternehmen in die Transferlisten des Bundesamtes für das Handelsregister eingetragen. Von diesen waren 68 daran interessiert, ihren Sitz im Konfliktfall in ein Land ihrer Wahl zu verlegen, 18 hätten es vorgezogen, dem Bundesrat in einem möglichen Exilland zu folgen.
Die erwähnten Bundesbeschlüsse zur Sitzverlegung von Schweizer Firmen brachten indes auch gewisse Probleme mit der Schweizer Neutralität mit sich. Die erwogenen Massnahmen basierten, wenn auch nicht explizit, auf der Annahme, dass ein Angriff durch Staaten des Sowjet-Blockes erfolgte. Die Verhandlungen für die Sitzverlegung wurden ausschliesslich mit Staaten des westlichen Einflussbereichs geführt.
Die schweizerischen Behörden waren jedoch der Ansicht, dass die Neutralität nicht auf wirtschaftliche Bereiche auszudehnen war, zumindest solange keine Vereinbarungen zwischen Staaten über eine Zoll- oder Wirtschaftsunion betroffen waren. Auf alle Fälle hielt Bern die Diskussionen über die Verlegung von Unternehmen immer vertraulich, nicht zuletzt, um Reaktionen des Sowjetblocks zu vermeiden.
Im Rückblick scheinen die von der Schweiz ergriffenen Massnahmen zum Schutz der Interessen von Unternehmen reine Papiertiger zu sein. Doch sie zeugen von einer Zeit, die von einer fast paranoiden Angst vor einer sowjetischen Militärintervention geprägt war. Überraschend ist, dass die Dekrete den Fall der Berliner Mauer überlebt haben: 1990 bekräftigte der Bundesrat auf eine Anfrage von SP-Nationalrat Martin Bundi deren Bedeutung. Die Dekrete von 1957 wurden erst 2017 aufgehoben.
(Übersetzung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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