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Schweizer Gesundheitswesen zwischen Staat und freiem Markt

Vor allem die wirtschaftliche Situation eines Landes macht gegenwärtig den grössten Unterschied zwischen den verschiedenen Gesundheitssystemen in Europa aus: Reichere wie die Schweiz bieten bessere Leistungen, haben Forscher herausgefunden. Keystone

Die medizinische Versorgung "in zwei Klassen" ist im heutigen Europa eine Realität. Auch wenn der Trend zu einem gemischten Gesundheitssystem zwischen staatlicher Kontrolle und freier Konkurrenz anhält, entfernen sich die Systeme reicher Länder wie der Schweiz immer mehr von ihren ärmeren Nachbarn.

«Nein zu einer Gesundheitsversorgung nach italienischem Modell!», «Wir wollen diese Sécu à la française nicht»: Im Abstimmungskampf um die Volksinitiative «für eine öffentliche Krankenkasse»Externer Link stehen Vergleiche zwischen dem Schweizer System und jenen anderer Länder an der Tagesordnung. Über die Vorlage wird am 28. September abgestimmt.

Doch machen solche Vergleiche auch Sinn? «Nein», meint Giuliano BonoliExterner Link, Professor für Sozialpolitik an der Universität Lausanne, gegenüber swissinfo.ch. «Der Vergleich mit Italien ist fehl am Platz, total sinnlos.» In den westeuropäischen Ländern gebe es im Wesentlichen «zwei grosse Familien von Systemen der Finanzierung der Gesundheitsversorgung: Eine setzt auf die Sozialversicherung und finanziert sich hauptsächlich über Lohnabzüge oder andere Beiträge, und die Pflegedienstleister arbeiten unabhängig. Die andere basiert auf einem staatlichen Dienst, wird hauptsächlich durch Steuern finanziert, und die Ärzte sind staatliche Angestellte.»

Teure Qualität

Die Qualität des Schweizer Gesundheitssystems ist rundherum anerkannt. Die Schweiz befindet sich fast bei allen Klassierungen im Gesundheitsbereich auf den vordersten Plätzen.

Andererseits belegt sie aber auch einen Spitzenplatz auf der wenig beneidenswerten Liste der Gesundheitskosten: 2012 betrugen diese 11,4% des Bruttoinland-Produkts, gegenüber dem OECD-Durchschnitt von 9,3%. Das entspricht in der Schweiz 6080 US$ pro Kopf, in den Ländern der OECD 3484 US$.

Die direkt von privaten Haushalten geleisteten Zahlungen beliefen sich auf 26% der gesamten Gesundheitsausgaben, verglichen mit dem OECD-Durchschnitt von 19%.

Italien gehört dieser zweiten Gruppe an, während es in der Schweiz, auch wenn die rund 60 privaten Krankenkassen durch eine Einheitskasse ersetzt würden, «zu keiner Verstaatlichung des Gesundheitswesens käme. Es gäbe nur etwas mehr Staat im Vergleich zum heute bereits stark reglementierten Wettbewerb», so der Experte.

Internationale Vergleiche zu ziehen, sei «sehr schwierig, denn es handelt sich um komplexe Systeme, in denen gewisse Details sehr wichtig sein können», sagt Bonoli. Allein in Westeuropa habe praktisch jedes Land innerhalb der «zwei grossen Familien» ein eigenes System mit gewissen Besonderheiten.

Rangliste für Indikatoren

Vergleiche zwischen den einzelnen Ländern sollten daher nur «gezielt auf spezifische Aspekte vorgenommen werden», so der Professor. «Zum Beispiel ist es interessant, die Kostenbegrenzung zu vergleichen, oder die Effizienz.»

Aufschlussreich in diesem Zusammenhang sind die Gegenüberstellungen der Weltgesundheits-Organisation (WHO) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Die beiden internationalen Institutionen ziehen keinen generellen Vergleich der Gesundheitssysteme, sondern erarbeiten Ranglisten für verschiedenste IndikatorenExterner Link.

Die schwedische Expertengruppe Health Consumer PowerhouseExterner Link, deren erklärtes Ziel die Förderung von Bewertung und Transparenz im Gesundheitssektor ist, um die Macht und Verantwortung der Patienten zu stärken, errechnet jedes Jahr den Euro Health Consumer Index (EHCI)Externer Link. Dieser ist eine internationale Vergleichsstudie im Gesundheitsbereich unter 35 europäischen Volkswirtschaften, in der die Resultate aus öffentlich verfügbaren Statistiken, Patienten-Umfragen und zusätzlicher unabhängiger Forschung für insgesamt 48 Indikatoren verglichen werden.

Versicherungsmodell im Vorteil

Prinzipiell «wird in der Studie festgehalten, dass staatliche Systeme besser bei der Kostendämpfung sind, aber eher dazu neigen, Wartelisten zu schaffen, während Systeme mit weniger staatlicher Einmischung weniger solche Listen haben, dafür grössere Anstrengungen zur Begrenzung der Kosten unternehmen müssen», erklärt Bonoli. Es handle sich dabei aber nicht um eine absolute Regelung: «Es gibt Länder mit staatlichem Gesundheitssystem, die über keine Wartelisten verfügen. Es hängt von den Mitteln ab, die zur Verfügung gestellt werden. Das ist eine politische Entscheidung.»

Wettbewerb

In der Schweiz ist jede Person verpflichtet, eine medizinische Grundversicherung abzuschliessen. Gegenwärtig kann aus 61 Krankenkassen ausgewählt werden. Diese dürfen niemanden ablehnen und haben die Pflicht, mit allen medizinischen Dienstleistern zu arbeiten. Bei der Festlegung der Prämien dürfen sie die Versicherten nicht nach gesundheitlichem Risiko einstufen.

In diesem Kontext gebe es kaum einen echten Wettbewerb zwischen den Kassen, sie konzentrierten sich vielmehr auf die Jagd nach so genannt «guten Risiken». Ein Vorwurf, der nicht nur von den Befürwortern einer Einheitskasse kommt, sondern auch von WHO und OECD in einem Bericht von 2011Externer Link formuliert wurde, sowie 2013 vom Institute for Research in Economic and Fiscal issues «Für wirtschaftliche Freiheit und Steuerwettbewerb»Externer Link in Paris.

«Dieser Wettbewerb ist nicht gesund, global gesehen ist er unproduktiv», sagt Giuliano Bonoli. Für den Professor an der Universität Lausanne wäre aber ein Wettbewerb zwischen öffentlichen Kassen der Kantone denkbar, sollte das von der Initiative vorgeschlagene Modell eingeführt werden. Diese Konkurrenz würde über einen anderen Mechanismus funktionieren: Durch den Druck der Versicherten, die in einem transparenten System die Prämien der Kantone vergleichen könnten, auf die Politik.

Die Autoren des EHCI betonen, dass «die Gesundheitssysteme mit den besten Resultaten vorrangig jene aus kleineren, reichen Ländern sind, wie Dänemark, Island und Norwegen. Der Grossteil jener Länder mit guten Resultaten im Gesundheitsbereich basiert auf Grundversicherungs-Modellen, wie die Niederlande, die Schweiz, Belgien, Deutschland und Frankreich».

Die schwedischen Forscher kommen zum Schluss, dass basierend auf den Indikatoren des EHCI «Gesundheitssysteme, die auf einem Versicherungsmodell basieren, gegenüber öffentlich finanzierten Systemen bessere Resultate zu erbringen scheinen».

Auch wenn die von der Volksinitiative vorgeschlagene Einheitskasse vom Stimmvolk angenommen würde, werde das System der Grundversicherung in der Schweiz auf jeden Fall weiterhin auf einem Versicherungsmodell basieren, erklärt Giuliano Bonoli. «Statt die Prämien an eine private Krankenkasse zu bezahlen, würde man sie an eine kantonale Kasse überweisen.» Die Prämien würden weiterhin individuell erhoben und nicht gemäss einem Prozentsatz des Einkommens. Sie könnten aber von Kanton zu Kanton variieren.

Reichtum macht den Unterschied

Falls also die Initiative «für eine öffentliche Krankenkasse» angenommen würde, «käme dies keiner Revolution gleich», glaubt der Speziallist für Sozialpolitik. Die Änderung in der Schweiz stünde in Einklang mit der Reformbewegung in einem Grossteil der europäischen Länder während der letzten zwei Jahrzehnte, die durch eine Dynamik der Konvergenz zwischen den beiden grossen Modellen charakterisiert sei.

«Die Tendenz ist, dass man in Richtung eines Zwischenmodells tendiert, das Marktelemente und solche staatlicher Kontrolle kombiniert. Die Länder mit staatlichen Systemen haben Marktmechanismen eingeführt, um ihre limitierten Mittel besser einzusetzen. Die Länder mit liberalen Systemen haben mehr Kontrolle und staatlichen Interventionismus eingeführt», so Bonoli. Auch die Schweiz habe 1996 bereits einen grossen Schritt in diese Richtung getan, als das Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) in Kraft getreten sei, betont der Professor.

Doch laut den Autoren der EHCI steht die Art der Finanzierung nur an zweiter Stelle. Vielmehr bestimme die Wirtschaftskraft eines Landes die Qualität der medizinischen Versorgung. «In der Klassifizierung 2013 finden sich die reichsten Länder im vordersten Teil, und das Phänomen ist noch ausgeprägter als in den Vorjahren», unterstreichen sie. Die Kluft verbreitere sich. Heute gebe es in der Gesundheitsversorgung in Europa «zwei Klassen», je nach Reichtum der Länder. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die Schweiz auf dem zweiten Platz liegt, gleich hinter den Niederlanden.

(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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