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«Der Westen ist für das Flüchtlingselend mitverantwortlich»

Patricia Ponte Pérez vor dem 20. März mit Flüchtlingskindern in einem Flüchtlingslager im Hafen von Samos. zVg

Seit Inkrafttreten des Pakts zwischen der Europäischen Union (EU) und der Türkei am 20. März ist die Lage für die Flüchtlinge auf den griechischen Ägäis-Inseln noch härter geworden. Sie wissen nicht, ob und wann sie in die Türkei zurückgeschafft werden. Verunsichert und ohnmächtig fühlen sich auch die freiwilligen Helfer. Schweizerinnen vor Ort sind empört über die Verletzung der Menschenrechte.

Patricia Ponte Pérez, eine 19-jährige Frau aus dem schweizerischen Zofingen, hat im Februar ihren Job im väterlichen Restaurant quasi über Nacht gekündigt, um auf Samos zu helfen, zusammen mit anderen Volontären: Junge und Ältere, Männer und Frauen aus aller Welt, darunter viele aus der autonomen Szene Berns.

«Wir kochten zusammen mit einheimischen Frauen für bis zu 1000 Personen – mal Reis, mal Linsen oder Teigwaren. Wir gaben den neu angekommenen und durchnässten Flüchtlingen im Hafen trockene Kleider und Schuhe, was sehr stressig war, wir spielten mit den Kindern, tanzten zusammen, schlossen sie ins Herz. Es ist gut, wenn die Kleinen Abwechslung haben und die Eltern für eine Weile entlastet sind.»

Samos, eine der südlichen Sporaden in der Ägais mit rund 33’000 Einwohnerinnen und Einwohnern, ist wie Lesbos oder Chios ein attraktives Ziel für Schlepperbanden, denn die schmalste Stelle zwischen der Insel und dem türkischen Festland beträgt nur gerade 1,7 km.

Die Menschen, mehrheitlich aus Syrien, Afghanistan, Irak und Pakistan, müssen für die gefährliche Überfahrt mehrere Hundert bis über 2000 Dollar hinlegen. Eine horrende Summe, wenn man bedenkt, dass beim Schweizer Reiseveranstalter Kuoni eine Woche Samos inkl. Flug und Hotel bereits ab 651 Franken zu haben ist.

Helfen hilft auch den Helfern

Seit Inkrafttreten des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei am 20. März hat sich die Lage dramatisch verändert: Neuankömmlinge werden registriert und in ein von doppeltem Stacheldraht umzäuntes Auffanglager, den früheren Hotspot der Insel, gebracht. Das Camp können sie nicht verlassen. «Wir sind eingesperrt wie in einem Gefängnis», erzählt ein Pakistani, der sich vorher wie alle anderen Flüchtlinge frei bewegen konnte.

Hunderte Migranten, die vor dem Stichtag des 20. März nach Samos gekommen waren, wurden mit Fähren aufs griechische Festland gebracht, und es hiess Abschied nehmen. Für die junge Frau aus der Schweiz waren das traurige Momente. «Man hat eine Beziehung aufgebaut und sie lieb gewonnen, jetzt weiss man nicht, was mit ihnen geschieht.»

Für die Versorgung im Auffanglager von Vathy, dem Hauptort von Samos, sind nun das Militär und die Polizei zuständig, die Freiwilligen sind quasi «arbeitslos» geworden, viele bereits abgereist. «Ich bleibe vorläufig hier», sagt Ponte Peréz. «Ich will wissen, was mit den Flüchtlingen passiert und wenn möglich weiter helfen.»

Humanitäre Organisationen, wie das Flüchtlingshilfswerk UNHCR oder Ärzte ohne Grenzen (MSF), bezeichnen die Internierung der Flüchtlinge als unmenschlich und unmoralisch und haben ihr Engagement deshalb reduziert. Viele der zahlreichen freiwilligen Helfer aus aller Welt haben die Inseln verlassen.

Der Sprecher des griechischen Stabes für die Flüchtlingskrise, Giorgos Kyritsis, sagte, die Menschen würden nicht dauerhaft festgehalten, sondern müssten so lange in den Lagern bleiben, bis ihr Asylantrag im von der EU verordneten Schnellverfahren beendet sei.

Grosse Solidarität der griechischen Bevölkerung

Eliane Apostolou, die ihre griechische Ferienliebe geheiratet hat, lebt seit 22 Jahren auf der Insel und vermietet zusammen mit ihrem Mann Ferienstudios an Touristen. Eleni, wie man sie hier nennt, bewundert das Engagement dieser jungen Leute und hat ihnen jeweils die Wäsche gewaschen.

Die 53-jährige Schweizerin aus Bern-Bümpliz setzt sich – wie übrigens viele Griechen auf Samos – für die Flüchtlinge ein. Sie besorgte Matratzen, sammelte Spendengelder, verteilte Kleider. Und im letzten Herbst, als es kalt war und viele Flüchtlinge in der Stadt Karlovasi draussen übernachteten, machte sich dafür stark, dass die Stadtverwaltung ein leerstehendes Haus als Unterkunft zur Verfügung stellte.

Samos habe übrigens nicht erst seit letztem Jahr mit Flüchtlingen zu tun, sondern bereits seit 2002, erzählt die Schweizerin. «Damals kamen Kriegsflüchtlinge aus dem Irak oder Palästinenser, natürlich nicht in diesem Ausmass wie heute.»

Besonders viel Verständnis bringt laut Apostolou die ältere Generation für die Flüchtlinge auf, jene, die noch den Zweiten Weltkrieg oder die Vertreibung und Zwangsumsiedlung von über einer Million Griechen aus Kleinasien in den frühen 1920er-Jahren in Erinnerung haben.

Eleni Apostolou mit ihrem Pickup, der sich bestens zum Transport von Matratzen, Kleidern, Kisten voller Esswaren eignet. swissinfo.ch

Wie weiter?

«Seit dem Stichtag vom 20. März kommen klar weniger Flüchtlinge an», berichtet ein deutscher Polizist, der seit einem Monat für die Grenzschutzagentur Frontex Patrouillen fährt und im Hafen sein Schiff reinigt.

«Aber sie kommen noch immer, in billigen Gummibooten. Da muss nur einer einen spitzigen Gegenstand in der Hosentasche haben, und das Boot ist futsch.»

Am Ostersonntag zum Beispiel werden 73 Frauen, Männer und viele kleine Kinder und Babys ins Lager gebracht, durchnässt, schmutzig, erschöpft, erkältet. Bis sie etwas zu essen, trockene Kleider und Schuhe erhielten, vergehen Stunden. Die Stimmung ist angespannt, die Menschen sind verunsichert, vereinzelt kommt es zu Tumulten. Um gegen ihre Internierung und eine allfällige Abschiebung in die Türkei zu protestieren, versperren einige von ihnen dem Lebensmitteltransporter den Zugang ins Camp.

Keine Auskunft

Ob dort 500 Personen oder mehr untergebracht sind, ist unklar. Genaue Zahlen kann man in der Polizeistelle von Samos nicht in Erfahrung bringen. Stattdessen wird man selber ausgefragt: «Was wollen Sie auf Samos? Sind Sie allein? Haben Sie gestern im Camp oben mit einem Polizisten gesprochen? (Ja, ich versuchte es, erfolglos).» Schliesslich wird einem erklärt, man solle sich ans zuständige Ministerium in Athen wenden, schriftlich.

Patricia Ponte Pérez ist über die prekäre Lage der Flüchtlinge entsetzt, Eleni Apostolou empört: «Es geht hier um Menschenrechte, die krass verletzt werden. Und der Westen ist für das Elend der Flüchtlinge mitverantwortlich. Solange EU- und NATO-Länder Waffen exportieren und Bomben abwerfen, tragen wir eine Mitschuld.»

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