Zeitenwende in der politischen Aktivierung in der Schweiz
64.4 Prozent: Das Nein des Schweizer Volkes zur elektronischen Identität ist eine herbe Niederlage für Regierung und Parlament. Vor allem aber verdeutlicht das Verdikt gegen die E-ID den Aufstieg digitaler Aktivisten und Aktivistinnen zum ernstzunehmenden Machtfaktor. Parlament und Parteien sollten ihn ernst nehmen.
Die Bilanz der Behörden bei Abstimmungen über ihre Gesetze ist im Grundsatz nicht schlecht. In sechs von zehn Fällen setzen sie sich durch. Doch in der noch jungen Legislaturperiode hat die Regierung bei sieben Referenden schon die dritte Niederlage kassiert – zuletzt die E-ID Abstimmung vom 7. März.
Unüblich war mit 64,4 Prozent Nein – das sind fast zwei Drittel – auch die Höhe der Niederlage. Nur zwei Mal war die Opposition in den letzten rund 10 JahrenExterner Link grösser gewesen.
Eine Umfrage nach der Abstimmung zeigte: Das Nein kam vor allem aus den Mittel- und Unterschichten, und es wurde von Menschen getragen, die Misstrauen in die Politik hegen.
Trend zur Spaltung
Mit der Digitalisierung wird der Kreis der politischen Akteure erweitert. Die neuen Akteurinnen und Akteure relativieren das Monopol von Staat, Parteien und Verbänden in der Öffentlichkeit. Demokratiepolitisch ist dieser Pluralismus erwünscht. Doch hat es auch problematische Seiten. Drei typische Thesen aus der Forschung zur Digitalisierung der politischen Kommunikation:
These 1: Die Massenkommunikation wird zur Community-Kommunikation, die ihre Szenen treffsicher adressiert, die Öffentlichkeit aber spaltet.
These 2: Die lokal zentrierte Kommunikation wird durch gut vernetzte globale Akteure beeinflusst, die ihre weltweiten Erfahrungen schnell und überall einbringen.
These 3: Das Spektrum des politisch Denk- und Sagbaren wird erweitert, was Ansichten begünstigt, die Misstrauen in die etablierte Politik verstärken.
Dieses Abstimmungsergebnis verdient aber auch aus anderen Gründen eine genauere Betrachtung: Es zeugt von neuen Mechaniken, die sich im Schweizer Politbetrieb bisher zwar abgezeichnet, aber nun erstmals mit Wucht manifestiert haben.
Ich sehe vier Phänomene, die das ausserordentliche Ergebnis hier und jetzt erklären.
Erstens: Institutionelle und nicht institutionelle Öffentlichkeit
Tiefe Gräben zwischen politischer Elite und abstimmender BürgerInnen-Basis öffnen sich jeweils dann, wenn der Diskurs im Parlament und im Abstimmungskampf keinen Widerhall findet.
Eine Voraussetzung hierzu sind entgegengesetzte Interessen und Werte zwischen Behörden und Bürgerschaft. Das kommt namentlich dann vor, wenn wirtschaftliche Interessen mittels Lobbying in die gesetzgebenden Räte getragen werden und so gut verankerte Selbstverständnisse der stimmberechtigten Bevölkerung übergehen.
Beim E-ID-Gesetz standen sich die Ziele einer zügigen Digitalisierung, basierend auf einem Ansatz von öffentlich-privater Partnerschaft, und der Wunsch nach staatlich garantiertem Datenschutz ohne Möglichkeiten der Kommerzialisierung gegenüber.
Verstärkt wurde der Gegensatz durch eine referendumsfähige Allianz von links. Im Abstimmungskampf schlossen sich ihr die Delegierten der Grünliberalen Partei und AbweichlerInnen von rechts an. Verstärkend wirkten beispielhaft die Gewerkschaft SGB und der Kanton Waadt, der für eine Reihe skeptischer Kantone sprach. Zusammen bildeten sie die Stimme der einfachen Menschen in diesem Abstimmungskampf und damit die Basis der Ablehnung.
Zweitens: Themenprofilierte AktivistInnen
Themenprofilierte AktivistInnen sorgen für eine glaubwürdige Aktion über die politische Gegnerschaft hinaus.
Die TrägerInnen des Referendums rühmten sich am Abstimmungstag, das erste erfolgreiche Crowd-Referendum in der Schweiz durchgezogen zu haben. Es sei ihnen gelungen, viele Nerds aus der IT-Branche zu mobilisieren. Sie warben fachkundig und glaubwürdig gegen den Vorschlag der Behörden.
Gegenüber früheren vergleichbaren Kampagnen ist das eine bemerkenswerte Weiterentwicklung. Denn Teile der behördenkritischen Politik beherrschen heute die digitale Form des politischen Kampfes fast schon perfekt. Nach den erfolgreichen Tools für die Beschaffung von Finanzen und Unterschriften kam diesmal die Crowd-Aktivierung von BürgerInnen dazu. Sie baut ganz auf BeeinflusserInnen, die sich thematisch präzise und zeitlich beschränkt in bewegungsähnliche Aktionen einbringen.
Drittens: Die Pandemie-Sieger
«Die TrägerInnen des E-ID-Referendums sind Pandemie-Gewinner, denn sie haben die Zeichen der Corona-Krise rechtzeitig erkannt.»
Die TrägerInnen des E-ID-Referendums sind Pandemie-Gewinner, denn sie haben die Zeichen der Corona-Krise rechtzeitig erkannt.
Die zahlreichen und andauernden Corona-Massnahmen haben die Versammlungsdemokratie mit Gemeindeversammlungen zum Erliegen gebracht. Angeschlagen sind auch die Vereine als Basis der direkten Demokratie.
Wer meinte, damit ginge wie in vielen anderen Ländern die politische Beteiligung zurück, sah sich jedoch getäuscht. Die Abstimmungsbeteiligung steigt seit den 1990er-Jahren. Genauso verhält es mit dem politischen Interesse. Unter Corona-Bedingungen erreichte es Spitzenwerte.
Am 7. März gingen 51 Prozent der Stimmberechtigten an die Urnen. Überraschen würde es nicht, wenn sich typische Veränderungen der neuen Zeit erneut zeigen würden. Bei Männern, die sich ihre Meinung gerne am Stammtisch bilden, ist die Teilnahme rückläufig. Bei Frauen ist sie insgesamt steigend. Junge Frauen sind die eigentlichen Trendsetterinnen.
Viertens: Die aktivierte Zivilgesellschaft
Erfolgreiche digitale Kampagnen und veränderte Mobilisierung kennzeichnen den neuartigen Umbruch der Zivilgesellschaft.
«Die kritische Öffentlichkeit aktiviert vor allem Gesellschaftsgruppen, die sich gegen Konzerne und gegen den Staat wenden.»
Internationale UntersuchungenExterner Link halten schon länger fest: Die kritische Öffentlichkeit aktiviert vor allem Gesellschaftsgruppen, die sich gegen Konzerne und gegen den Staat wenden. Streitpunkte sind die Missachtung fundamentaler Anforderungen wie Menschenrechte, Umweltschutz und Garantie der Privatsphäre.
Das nährt das Misstrauen. Es ist eine Triebfeder des politischen Engagements. Es bildet die aktive Zivilgesellschaft von heute, die nicht kommerziell ausgerichtet ist und politisch überparteilich aktiv wird.
In der Schweiz stellte man das 2016 als Reaktion auf die Durchsetzungsinitiative der SVP fest; 2019 prägte es das Wahljahr, und 2020 sprach man bei der Konzernverantwortungs-Initiative davon, als das Volks-, nicht aber das Ständemehr erreicht wurde. Nun ist das Phänomen mitten in kurzen und heftigen Referendumskämpfen angekommen – und hat das bemerkenswerte Ende der vorgeschlagenen eID gebracht.
Was das für die Zukunft verheisst
«Die Politik tut gut daran, der Herausforderungen der Jetztzeit ernst zu nehmen.»
Die mannigfaltige Zeitenwende in der politischen Aktivierung könnte in der Schweiz weiter Schule machen. Am 13. Juni 2021 findet bereits die nächste Abstimmung statt – es geht unter anderem um das Covid-19-Gesetz und um die polizeilichen Massnahmen gegen den Terrorismus.
Trotz Corona sind in beiden Fällen ausserordentlich viele Unterschriften zustande gekommen. Ihre Trägerschaften bilden sich ausserhalb oder am Rand der Parteien und binden neue Menschen in die oppositionelle Politik ein. Und sie dürften in den kommenden Monaten mit Überraschungen für ihre Ansichten in der Öffentlichkeit kämpfen.
Die Politik tut gut daran, der Herausforderungen der Jetztzeit ernst zu nehmen.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch