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Schweizer Politik in Lateinamerika: Höhen und Tiefen

Reuters

Die Tragweite der Wahlen in Venezuela vom Sonntag geht weit über die erwartete Wiederwahl von Hugo Chávez hinaus. Das Resultat wird die Politik einer Region bestimmen, in der es trotz Gewalt und Ungerechtigkeit auch Fortschritte gibt.

Eine Schweizer Delegation wird als Beobachterin an den Wahlen teilnehmen. Diese Präsenz fügt sich ein in die hundertjährige Beziehung zu Lateinamerika. Zur Agenda gehören auch die Beteiligung Berns an den Friedensverhandlungen zur Beendigung von 36 Jahren Bürgerkrieg in Guatemala sowie die Solidaritätsstrategie zur Stärkung der durch 50 Jahre bewaffneten Konflikts gegeisselten kolumbianischen Bevölkerung.

Zu den Friedensverhandlungen in Kolumbien wurde die Schweiz jedoch nicht eingeladen. Zudem beschloss Bern die Schliessung der Botschaft in Guatemala für 2013. Schweizer NGO befürchten nun, dass dies die Bemühungen um den Wiederaufbau des Landes vernichten könnte, das zwar offiziell in Frieden lebt, aber zu den gewalttätigsten der Welt gehört und eine erdrückende Last von Menschenrechtsverletzungen trägt. 

Das Gewicht der Transnationalen

Bezeichnend für den neuen Ansatz in den bilateralen Beziehungen ist für Bruno Rütsche das Verhalten transnationaler Firmen mit Standort in der Schweiz, die in Lateinamerika die Menschenrechte verletzen und die Umwelt schädigen und so das Image der Schweiz beeinträchtigen. 

«Ich glaube, dass die Schweiz nicht mehr als neutrales oder uneigennütziges, sondern als ein Land mit eindeutigen Interessen wahrgenommen wird», fügt der Gründer der Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien hinzu. 

Regelmässig besuchen kolumbianische, peruanische und andere lateinamerikanische Gewerkschaftler und Vertreter von NGO die Schweiz, um u.a. Nestlé und Glencore an den Pranger zu stellen. (Erstere war 2007 ein militärisches Ziel der Rebellenorganisation FARC und steht wegen des Todes eines Arbeiters unter Anklage.) 

Der Direktor des Zentralamerika-Sekretariats Dieter Drüssel weist darauf hin, dass der Syngenta-Konzern auf der Liste jener multinationalen Firmen steht, die in Paraguay den «parlamentarischen Putsch» gegen Fernando Lugo gefördert haben sollen. «In der Schweiz gab es leider wenig Widerstand, denn die Multinationalen profitieren von jedem nur vorstellbaren Elend in der Welt».

Eine andere politische Sicht

Für Franco Cavalli, Gründer der beiden wichtigsten in der Region tätigen NGO (MediCuba Schweiz und die Vereinigung für medizinische Hilfe in Zentralamerika, AMCA) und ehemaliger SP-Nationalrat, ist es wichtig, dass eine hochrangige Delegation den Wahlprozess in Venezuela beobachtet, «denn es besteht die Tendenz, die Bedeutung Lateinamerikas in der schweizerischen Aussenpolitik herunterzustufen.» 

Das Schweizer Aussenministerium widerspricht diesem Vorwurf: «Wirtschaftsinteressen waren immer ein wichtiger Teil unserer Aussenpolitik in Lateinamerika», argumentiert Pietro Piffaretti, Koordinator für Lateinamerika im Aussendepartement EDA. Zudem halte die Schweiz an ihrem Engagement für Entwicklungszusammenarbeit und zur Förderung der Menschenrechte fest.

Ein positiveres Umfeld

Piffaretti weist darauf hin, dass trotz der Herausforderungen für die Region – soziale Ungleichheit, Korruption, organisiertes Verbrechen, Autoritarismus – eine positive Tendenz bei der Konsolidierung der Demokratisierungsprozesse und der Wirtschaftsstrategien sowie der Entwicklung lokaler Integrationssysteme festzustellen sei. Dies erkläre die Anpassung der Schweizer Aussenpolitik. 

Laut Drüssel hat sich die Lage in Lateinamerika nicht nur wirtschaftlich sehr verändert: «Vor 15 Jahren wäre die sofortige Suspendierung Paraguays aus der Union südamerikanischer Staaten (Unasur) und des Gemeinsamen Marktes des Süden (Mercusur) nach dem Putsch gegen Präsident Fernando Lugo unvorstellbar gewesen.» 

Diese Solidarität ist das Ergebnis neuer sich herausbildender politischer und wirtschaftlicher Strukturen, die Präsident Chávez mit seinem bolivarischen Wunsch nach Integration vorantreibt. Dieser Wunsch stösst aber auf unterschiedliche Interpretationen.

Diskurs der Konfrontation

«Lateinamerika mit einer gemeinsamen Geschichte, einer gemeinsamen Sprache und sehr ähnlichen Herausforderungen sollte viel mehr integriert sein. Dies würde es dem Kontinent ermöglichen, in der Weltpolitik mehr Gewicht zu haben», meint Fabio M. Segura, Experte für internationale Beziehungen und Berater der ETH Zürich sowie von UNO-Organisationen. 

Laut ihm wurden in der Region «eindeutig sozialdemokratische, logische, lebensfähige und gültige Prinzipien» zurückerobert. Er bedauert jedoch auch die «radikale Konfrontation» dieses Diskurs mit jeder anderen Regierungsform oder Wirtschaftssystemen wie dem Kapitalismus. 

«Aus Sicht der Realpolitik und nicht jener der politischen Rhetorik wird die OAS (Organisation amerikanischer Staaten) weiterhin eine wichtige Rolle spielen und nicht so bald durch eine Organisation wie die Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAC), dem Lieblingskind von Chávez, ersetzt werden», meint der Historiker Cristian Durisch Acosta.

Der Sieg der Hoffnung

Laut Franco Cavalli weckt der vom Präsidenten Venezuelas angeführte Integrationsprozess Erwartungen. In den letzten 20 Jahren habe es auf den Gebieten demokratischer und wirtschaftlicher Prozesse, der Menschenrechte sowie im Gesundheits- und Schulwesen Fortschritte gegeben. Er warnt jedoch vor den Gegenoffensiven wie etwa den Staatsstreichen in Honduras und Paraguay sowie den Putschversuchen in Ecuador und Bolivien. 

«Es ist wichtig, dass Präsident Chávez die Wahlen gewinnt, denn er verfügt über die wichtigsten Mittel, um dieser Gegenoffensive standzuhalten. Und sein Charisma fördert die Begeisterung, um die Vereinigung und Befreiung Lateinamerikas zu erreichen.» Der Arzt betont, dass der Wahlsieg von Chávez den Sieg der Hoffnung für Lateinamerika bedeuten würde.

Der Delegation gehören Ständerat Luc Recordon (Waadt), die Nationalräte Ada Marra (Waadt), Antonio Hodgers (Genf) und Mathias Reynard (Wallis) sowie alt Nationarat Franco Cavalli, der frühere Schweizer Botschafter in Venezuela Walter Suter (2003 – 2007) und der Journalist Sergio Ferrari an.

Der Nationale Wahlrat Venezuelas (CNE) hat 200 ausländische Beobachter eingeladen und ihnen garantiert,  sich im ganzen Land frei bewegen zu können.

Germán Mundaraín Hernández, Vertreter Venezuelas bei der UNO in Genf, im Interview mit swissinfo.ch: 

«Bei den Wahlen in Venezuela vom 7.Oktober geht es um das Dilemma zwischen der Konsolidierung sozialer Fortschritte und der Rückkehr zu wirtschaftlichen und sozialen Modellen der Vergangenheit. 

Die Kandidaten: der amtierende Präsident Hugo Chávez des ‹Gran Polo Patriótico› verkörpert den Wandlungsprozess und die bolivarische Revolution. Enríque Capriles der ‹Mesa de Unidad Democrática› vertritt die traditionellen Sektoren, die Eliten, die während Jahrzehnten die Macht ausübten und eng mit den Transnationalen verknüpft sind. 

Die systematische Volksbefragung ermöglichte seit der Inkraftsetzung der neuen Verfassung von 1999 mehr als ein Dutzend nationale, parlamentarische und regionale Abstimmungen unter der Obhut des unabhängigen Nationalen Wahlrats (CNE). 

Voraussichtliche Resultate:

Ich glaube, dass die Ergebnisse mit den früheren Wahlen übereinstimmen werden. 2000 übertraf Chávez den Gegenkandidaten mit mehr als 20 Punkten und 6 Jahre später sogar mit 25. 

Capriles als venezolanischer Lula: In Brasilien wäre Capriles ohne Zeifel ein radikaler Gegner der Partei der Arbeiter. Lula war Arbeiter, ist Sozialist und Führer einer progressiven Partei und hat mit der politischen Vision Capriles nichts am Hut. 

Er versucht, zu verwirren und politisch zu spekulieren.

Capriles ist in den Wirtschaftssektoren und Teilen der Mittelschicht verwurzelt. Sie sind seine natürlichen Wähler. Um zu siegen, muss er jedoch versuchen, Stimmen der Unterschichten zu gewinnen.»

(Übertragung aus dem Spanischen: Regula Ochsenbein)

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