Schweizer Politiker «entsetzt» über Kommandoaktion
Der Angriff auf einen Gaza-Hilfskonvoi durch das israelische Militär hat bei den Mitgliedern der parlamentarischen Gruppe Schweiz-Palästina grosse Bestürzung hervorgerufen. Der Präsident der Gruppe Schweiz-Israel, Theophil Pfister, macht die Aktivisten verantwortlich.
«Wir verlangen, dass die Schweiz den Angriff schärfstens verurteilt und ihren Botschafter aus Israel abzieht», sagt Nationalrat Josef Zisyadis gegenüber swissinfo.ch.
Der Angriff sei «entsetzlich», «dramatisch», «verrückt». Andrea Hämmerle, Präsident der parlamentarischen Gruppe Schweiz-Palästina, ringt mit Worten, um seine Reaktion auf die Erstürmung eines internationalen Schiffskonvois mit Hilfsgütern für den Gazastreifen durch die israelische Armee zu beschreiben.
Am Montag nachmittag herrschte über die Zahl der Opfer keine Einigkeit: Gemäss der israelischen Armee gab es mehr als zehn Opfer unter den Passagieren und zwischen 7 und 10 verletzte Soldaten. Eine türkische Nichtregierungs-Organisation in Gaza spricht von mindestens 15 Toten, zumeist Türken.
«Dass Israel mit Gewalt gegen einen Konvoi mit Hilfsgütern vorgeht, ist unerträglich», sagt der Bündner Sozialdemokrat.
Der Grüne Nationalrat Geri Müller, auch er Mitglied der Gruppe Schweiz-Palästina, fordert, dass Israels Regierung vor ein internationales Gericht gestellt wird: «Einmal mehr hat Israel gezeigt, dass es nicht an einer Lösung des Nahost-Konflikts interessiert ist. Jetzt muss die internationale Gemeinschaft endlich handeln.»
Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) brachte seine tiefe Besorgnis über die gravierenden Vorfälle zum Ausdruck und fordert eine internationale Untersuchung der Umstände dieses tragischen Vorfalls.
Das EDA bedauert den Tod mehrerer Zivilpersonen sowie die Verletzten, auch unter den israelischen Streitkräften.
Wer trägt Verantwortung?
Theophil Pfister, Präsident der parlamentarischen Gruppe Schweiz-Israel, zieht derweil die Organisatoren des Hilfskonvois zur Verantwortung: «Falls Israel – und davon gehe ich aus – im Vorfeld ausreichend gewarnt hat, haben die Schiffsführer unverantwortlich gehandelt», sagt der St. Galler SVP-Nationalrat. «In diesem Fall haben die Aktivisten auch die Verantwortung für die Konsequenzen ihres Handelns zu tragen.»
Dieser Einschätzung widerspricht der Grüne Nationalrat Daniel Vischer, Präsident der Gesellschaft Schweiz-Palästina: «Selbst wenn Israel gewarnt hat, gibt es keinen legitimen Grund, ein Schiff mit Hilfsgütern zu beschiessen.»
Der israelische Angriff entbehre jeglicher völkerrechtlichen Grundlage, echauffiert sich Vischer. Er fordert den Bundesrat auf, sich öffentlich von «diesem empörenden Piratenakt» zu distanzieren und Israel um eine Erklärung zu ersuchen.
Beide Seiten bestreiten
Nachdem einige Aktivisten mit Äxten, Schusswaffen und Messern ein israelisches Einsatzkommando angegriffen hätten, habe das Kommando das Feuer eröffnet, berichtete der israelische Privatsender «Channel 10».
Die Organisation «Free Gaza» bestreitet, dass Aktivisten auf Soldaten geschossen hätten. An Bord des Schiffes befanden sich unter anderem auch die beiden deutschen Bundestagsabgeordneten Annette Groth und Inge Höger (Die Linke) sowie der schwedische Erfolgsautor Henning Mankell.
Vorwurf der Piraterie
Auch viele Israelis sind schockiert. Kommentatoren sprechen von einem absoluten PR-Desaster: Die «Free Gaza»-Schiffe wurden eindeutig in internationalen Gewässern aufgebracht. Israel dürfte sich nun dem Vorwurf der Piraterie ausgesetzt sehen.
Laut dem Bericht eines Korrespondenten des arabischen Nachrichtensenders Al Dschasira sollen «hunderte israelische Soldaten» im Einsatz gewesen sein. Hunderte von pro-palästinensischen Aktivisten sollen sich auf der «Solidaritätsflotte» befunden haben.
Nach unbestätigten Medienberichten sollen bei dem Militäreinsatz in internationalen Gewässern im Mittelmeer sogar bis zu 19 der 570 pro-palästinensischen Aktivisten an Bord des türkischen Passagierschiffes «Marmara» getötet worden sein.
Die radikal-islamische Hamas, die im Gazastreifen die Macht hat, rief zu einer «Intifada» vor den Botschaften Israels in der ganzen Welt auf. Araber und Muslime weltweit sollten sich erheben, erklärte die Organisation.
An Bord der Schiffe befinden sich etwa 10’000 Tonnen Hilfsgüter. Seit der Machtübernahme der Hamas im Sommer 2007 im Gazastreifen hält Israel eine strikte Blockade des Gebietes aufrecht.
«Bilder sind nicht schön»
Israels Industrie- und Handelsminister Benjamin Ben Elieser drückte sein «Bedauern über die Toten» aus. Die Fernsehbilder von der Erstürmung seien «nicht schön», sagte Elieser dem israelischen Armeeradio.
Die Armee habe nicht die Absicht gehabt, das Feuer zu eröffnen, «aber es gab eine enorme Provokation», fügte Elieser hinzu. Bei der Erstürmung wurden nach Armeeangaben mindestens vier israelische Soldaten verletzt, einer davon durch eine Kugel.
swissinfo.ch und Agenturen
Die internationale Organisation Free Gaza will
mit Hilfsgütern die palästinensische Bevölkerung des Gazastreifens unterstützen.
Solidaritätsfahrten von Schiffen sollen auch
öffentlichkeitswirksam auf die Blockade des Gebiets durch Israel hinweisen.
An Bord der Flotte befinden sich neben Aktivisten immer auch Politiker und Prominente: Diesmal bestieg der schwedische
Erfolgsautor Henning Mankell ein Schiff.
Mehrfach wurden bisher Fahrten von «Solidaritätskonvois»
organisiert.
In August 2008 erreichten laut Free Gaza zwei Schiffe mit Hilfsgütern im Wert von 200’000 Euro von Griechenland über Zypern Gaza.
Im Oktober 2008 brachten 26 Aktivisten auf einem weiteren Schiff medizinische Hilfsgüter nach Gaza.
Während des Gaza-Krieges endete eine Solidaritätsfahrt Ende Dezember 2008 kurz vor der Küste.
Bei einem weiteren Versuch im Juni 2009 wurde ein Hilfsschiff vor Gaza abgefangen und in den israelischen Hafen Ashdod gezwungen.
Die beiden Linken-Bundestagsabgeordneten Inge Höger und Annette Groth sowie der ehemalige Abgeordnete Norman Paech sind an Bord des Konvois von pro-palästinensische Aktivisten, der von israelischen Streitkräften im Mittelmeer angegriffen wurde.
Das teilte Linke-Fraktionschef Gregor Gysi am Montag in Berlin mit. Er erwarte von der Bundesregierung, dass sie sich unverzüglich für das Ende der Gewalt einsetze.
Ein Sprecher der Linken sagte, man habe derzeit keinen Kontakt zu den Abgeordneten und wisse auch nicht, wo sie sich aufhielten.
Paech ist 72 Jahre alt.
Groth ist die menschenrechtspolitische Sprecherin, Höger die Abrüstungsexpertin der Fraktion.
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