«Dieser Aufstieg der Grünen ist unglaublich»
"Das Ausmass der Verschiebungen ist massiv, das Plus der Grünen von über fünf Prozent ist ein unglaublicher Aufstieg, der so in der Schweiz selten ist", sagte der Politikwissenschaftler Lukas Golder am Schweizer Fernsehen SRF.
Die Wahlen 2019 gehen in die Geschichte ein. Verantwortlich dafür ist die Grüne Partei der Schweiz (GPS): Sie erringt einen beispiellosen Triumph und legt im Nationalrat um 17 Sitze zu. Neu haben die Grünen 28 Mandate. Einen solchen Sprung in Sachen Sitzgewinnen hat seit 1919 keine Partei geschafft.
Die wirtschaftsfreundlichen Grünliberalen gewinnen neun Sitze und sind neu mit 16 Gewählten im Nationalrat. Zusammen kommen die beiden ökologisch fokussierten Kräfte neu auf 44 Sitze, was knapp einem Viertel der 200 Sitze im Nationalrat entspricht.
«Die Grünen sind erster Sieger, die Grünliberalen zweiter Sieger», kommentierte Lukas Golder, Ko-Leiter des Forschungsinstituts gfs.bern. 2019 sei ganz klar eine Klimawahl, denn das Pendel sei heute weit stärker Richtung Klimaschutz ausgeschlagen als 2011 nach der AKW-Katastrophe im japanischen Fukushima. Bei den letzten Wahlen 2015 hatten die Grünen und Grünliberalen Verluste erlitten.
Die Verschiebungen seien auch deshalb sehr bedeutend, weil sich damit die Gewichte der Blöcke in den beiden Kammern des Schweizer Parlaments verschieben würden. «Die Zeiten der Polarisierung, wie wir sie in der Schweizer Politik gekannt haben, sind vorbei», sagte Lukas Golder.
Der heute erfolgte historische «Grünrutsch» im Nationalrat werde das Schweizer Parlament nicht grundsätzlich umpflügen, schreibt Christoph Nufer, SRF-Korrespondent im Bundeshaus. «Wechselnde Allianzen werden weiterhin den Parlamentsbetrieb prägen. Aber etwa in der Umwelt- und Landwirtschaftspolitik sind grüne Akzentverschiebungen zu erwarten.»
Hier der Kommentar des Schweizer Meister-Karikaturisten Chappatte zum Ausgang der Wahlen 2019:
« L’air du temps » vert souffle aussi sur la Suisse, par @chappatteExterner Link https://t.co/0jE8dyllYyExterner Link pic.twitter.com/0wvpbU420vExterner Link
— Darius Rochebin (@DariusRochebin) October 20, 2019Externer Link
Ablöscher Stimmbeteiligung
Regelrecht enttäuscht zeigte sich Lukas Golder ob der Stimmbeteiligung: Nur 45,1% der Berechtigten gingen an die Wahlurnen. Bei den letzten Wahlen 2015 nahmen 48,5% teil.
«Das ist deshalb sehr enttäuschend, weil im Vorfeld grosse Anstrengungen unternommen wurden, um die Bürgerinnen und Bürger zu mobilisieren. Aber das hat offenbar nicht funktioniert.
Hier die Analyse mit Claude Longchamp. swissinfo.ch-Journalist Renat Kuenzi befragte den Politik-Analysten zu den Auswirkungen der historischen Wahl 2019:
Hinter der SVP neu ein Quartett
Die sieggewohnte rechtskonservative SVP ist die grösste Verliererin des Tages: Sie büsst erdrutschartig zwölf Mandate ein, ist aber mit 53 Sitzen immer noch klar stärkste Partei. Die Sozialdemokraten müssen ein Minus von vier Mandaten hinnehmen. Die Freisinnigen verlieren vier Sitze und stehen noch bei 29 Sitzen.
«Hinter der SVP kommt es jetzt neu zu einen Vierkampf von vier starken Parteien, das ergibt ein neues Muster in der Schweizer Politik», sagte Golder. Die Christdemokraten gehen mit einem Verlust von drei Sitzen aus der Wahl heraus.
Mehr
Die Schweiz hat gewählt. Die Ergebnisse in sechs Grafiken
Bemerkenswert hier: Die Grünen haben die CVP punkto Sitzen und Wähleranteil überholt (13,2% vs. 11,4%). Das heisst: Erstmals haben die Grünen eine der vier in der Regierung vertretenen Parteien überflügelt.
Mit einem «blauen Auge» ist die FDP davon gekommen, wie Fraktionspräsident Beat Walti sagte. Damit ist auch klar, dass der Schwenk der Mitte-Partei in diesem Frühling in Richtung griffigerem Klimaschutz gescheitert ist. Dies hat bei Twitterer Michael für einen nicht ganz ironiefreien Kommentar gesorgt:
FDP mitem Klimakurs #SymbolVideoExterner Link #WahlCH19Externer Link https://t.co/qJQXse4reHExterner Link
— Michael (@mxvds) October 20, 2019Externer Link
Der Griff nach dem Sitz in der Regierung
Zu den strahlenden Siegerinnen des Tages zählt zweifellos Regula Rytz. Die Präsidentin der Grünen Partei Schweiz sprach von einem Erdrutschsieg ihrer Partei. «Die Bevölkerung will eine grünere Politik» sagte sie. In der so genannten Elefantenrunde, die Runde des Schweizer Fernsehens mit allen Prädidentinnen und Präsidenten der Parteien, lud Rytz ihre Pendants zu einem Klimagipfel mit Experten ein.
Zugleich meldete sie den Anspruch der Grünen auf einen Sitz im siebenköpfigen Bundesrat an. «Aus meiner Sicht handelt es sich hier um eine der grössten Verschiebungen, die es je gab. Es ist klar: Der Bundesrat, wie er heute zusammengesetzt ist, passt nicht mehr zu den Mehrheiten im Parlament», sagte die Nationalrätin, die sich im Kanton Bern für einen der beiden Ständeratssitze bewarb.
Rytz hat auch schon einen Plan: Die Grünen sollen einen der beiden Bundesratssitze der FDP angreifen, wie sie gegenüber einer Zeitung sagte. Die ehemals staatstragende Partei hat mit 29 Sitzen nur noch einen mehr als die Grünen.
«Die grüne Welle hat die Schweiz voll erfasst», sagte FDP-Chefin Petra Gössi sagte gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung. Trotzdem hätten die Grünen vorerst keinen Anspruch auf einen Bundesratssitz.
Gössi betonte, dass ihre Partei nicht wegen der Wahlen aufs ohnehin alles beherrschende Klima-Thema aufgesprungen sei. Der Partei sei es ein Anliegen, mit liberalen Lösungen zu guten Kompromissen zu kommen. Der erstarkte linke Flügel im Parlament dürfe jetzt nicht überborden.
SVP-Präsident Albert Rösti räumte ein, dass seine Partei ihre Massnahmen für eine intakte Umwelt früher hätte kommunizieren sollen. Rösti versuchte angesichts der zweistelligen Sitzverluste, in Schadensbegrenzung zu machen. Der Partei sei es gelungen, jene Wählerinnen und Wähler abzuholen, die keine höheren Preise zahlen wollten: «Mit minus elf Sitzen kann die Partei nicht zufrieden sein. Doch noch immer hat jeder Vierte die SVP gewählt.»
Mehr
Schweizer Parlamentswahlen – so funktioniert’s
Die CVP bleibe inmitten aller grossen Veränderungen die stärkste Mitte-Partei, stellte Präsident Gerhard Pfister fest. Die Umfragen hätten wesentlich schlechter ausgesehen als das jetzt zu erwartenden Resultat. «Die Mitte hat Anrecht auf mindestens einen Sitz, es wäre wohl keine gute Idee, diesen zu entfernen.»
Die Verluste erklärte SP-Präsident Christian Levrat unter anderem damit, dass die Sozialdemokraten kein «grün» im Namen hätten, obwohl sie bei den grossen Themen massgeblich mitgestaltet habe. Auf die Frage, ob die SP die Grünen dabei unterstützen würden, einen Bundesratssitz anzugreifen, wich Levrat aus. Das Thema müsse spätestens bei der nächsten Vakanz diskutiert werden.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch