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«Der kurzfristige Impact wird riesig sein»

Frauen der Grünen freuen sich in Lausanne über die Wahl einer Kollegin
Mehr Frauen, mehr frischen Wind - so sehen die Gesichter der neuen Politik im Schweizer Parlament aus. Frauen der Grünen freuen sich in Lausanne über den Einzug einer Kollegin in den Nationalrat. Keystone / Laurent Gillieron

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Der historische Sieg der Grünen und Grünliberalen bei den Schweizer Wahlen macht selbst den langjährigen Politikanalysten Claude Longchamp baff. Die neue Konstellation mit Mitte-links-Mehrheiten in beiden Parlamentskammern werde bereits beim neuen CO2-Gesetz für einen strengeren Klimaschutz zum Tragen kommen, sagt er in der Analyse.

Eine neue Allianz von SP, CVP, Grünen und Grünliberalen könnte auch in anderen Politikfragen neue Dynamik entfachen. Sogar in der aktuell blockierten Frage des EU-Rahmenabkommens.

swissinfo.ch: Die Grünen haben einen historischen Wahlsieg gelandet – sie gewinnen 17 Sitze und kommen im Nationalrat neu auf 28 Mandate. Haben Sie noch Worte?

Claude Longchamp
Sieht die Grünliberalen als Mehrheitsbeschaffer Nr. 2 im neuen Schweizer Parlament: Claude Longchamp. swissinfo.ch

Claude Longchamp: Nein. Das hat niemand erwartet, auch im Bundeshaus waren alle überrascht. In den 28 Jahren, in denen ich Wahlen in der Schweiz analysiere, hatte nur einmal eine Partei noch mehr an Wähleranteil zugelegt, nämlich die SVP, die 1999 ein Plus von sieben Prozent erreichte. 

In Sitzgewinne umgemünzt, waren es damals aber nur deren 14. Sie waren zudem dem Umstand geschuldet, dass sich zuvor die damalige Freiheitspartei aufgelöst und der SVP angeschlossen hatte.

Abgesehen davon gab es in der jüngeren Geschichte der Schweiz nie eine solche Veränderung. Dabei ist das erst die halbe Miete, denn auch die zweite grüne Partei, die Grünliberalen, konnten stark zulegen, sowohl was Wähleranteil als auch Mandate betrifft. Beide Parteien zusammen machen heute 20% der Wählenden aus, das ist historisch.

swissinfo.ch: 2019 war eine Klimawahl. Wird jetzt alles anders in der Schweizer Politik?

C.L.: Kurzfristig wird der Impact riesig sein, nämlich auf die noch ausstehende Diskussion im Parlament über das CO2-Gesetz. Wir stehen in der wichtigsten Phase der Umsetzung des Pariser Abkommens zum Klimaschutz. Die Schweiz kann es sich nicht mehr leisten, sich politisch rückwärts zu bewegen.

Vermutlich findet sich dabei eine Allianz aus SP, CVP, Grünen und Grünliberalen – sie haben neu eine Mehrheit in beiden Kammern. Wenn sie harmonieren, können sie zusammen nicht nur die Umweltpolitik gestalten, sondern auch andere Bereiche wie beispielsweise die Infrastrukturpolitik. Hier sehe ich den grössten Aufholbedarf für die nächste Legislatur.

Last but not least wird es auch eine Diskussion geben über die Repräsentation im Bundesrat. Wir haben heute ein Mitte-Links-Parlament und eine rechte Regierung.

Die Analyse von Claude Longchamp im Livestream vom Sonntag:

Externer Inhalt

swissinfo.ch: Die neuen Mitte-Links Mehrheiten in National- und Ständerat bedeuten das Ende der Ära der Polarisierung im Parlament. Eröffnet das auch eine neue Dynamik in anderen Fragen, wie etwa dem Verhältnis der Schweiz zur EU?

C.L.: Da wäre ich mir nicht so sicher, dass dies so schnell passiert. Die SP war hier die bremsende Partei der letzten zwei Jahre, und sie hat jetzt Verluste erlitten. Sie muss in sich gehen und sich die Frage stellen, ob nicht auch ihre Haltung in der Europafrage zu den jetzigen Einbussen geführt hat. Sie, gewohntermassen die Pro-Europapartei der Schweiz, ist jetzt in Europafragen zur Bremserpartei geworden – da hat sie sicher ein Vertrauensproblem.

Die zweite Frage: Gibt es eine neue Dynamik um die Grünliberale Partei? Die GLP war jene Partei, die am dezidiertesten dafür eingetreten ist, das Rahmenabkommen mit der EU bedingungslos zu unterschreiben. Es ist vorstellbar, dass sie hier eine neue Dynamik entfachen kann. 

Gelingt es ihr, links und rechts Partner für eine Allianz zu finden, und schafft sie vielleicht gar die aktuelle Deblockierung in der Frage, könnte sie so ihr politisches Gesellenstück abliefern und sich damit für zukünftige Exekutivaufgaben empfehlen.

swissinfo.ch: Bisher war die CVP traditionelle Königsmacherin, die im Parlament Allianzen für politische Lösungen schmieden konnte. Machen ihnen jetzt die Grünliberalen diese Rolle streitig?

C.L.: Nicht in jedem Fall. Denn die CVP bleibt die wichtigere Partei, insbesondere auch aufgrund ihrer Stellung im Ständerat, die ich für entscheidend halte. Die CVP ist sich diese Rolle stärker gewohnt – mit Ausnahme der letzten vier Jahre, als die FDP diese Rolle übernahm. Ansonsten aber ist die CVP die genuine Scharnierpartei in der Schweiz.

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Es gibt aber Spielraum: Sollte die CVP in einer Frage eine zu wenig liberale Position einnehmen, kann die GLP versuchen, etwa mit der FDP neue Mehrheiten zu schaffen. Wir haben eine erste Mehrheitsbeschafferin, die CVP, und dazu haben wir eine zweite Mehrheitsbeschafferin erhalten – die GLP.

swissinfo.ch: Zur ersten Verliererin: Die SVP büsst 12 Sitze ein und hat damit eine veritable Klatsche eingefangen. Wo steht sie, die aber nach wie vor stärkste Partei ist?

C.L.: Die SVP muss zweifelsfrei gewaltig in sich gehen. Sie hat alles verloren, was sie vor vier Jahren hinzugewonnen hatte. Alles, was sie in den letzten vier Jahren aus dem Wahlsieg 2015 herauszuholen versuchte, ist zunichte gemacht. 

Allerdings: Man hat es auch sehen kommen. Bei den Abstimmungen war sie erfolglos. Vor allem dann, wenn sie nicht kompromissfähig politisiert hatte. Jetzt hat sie dafür die Quittung erhalten. Man will eine SVP, welche die nationalkonservative Schweiz vertritt. 

Aber man will keine SVP, die mit dem Kopf durch die Wand geht und jetzt auch noch die Kündigungsinitiative  zur Abstimmung bringen will (Volksinitiative zur Aufkündigung des freien Personenverkehrs mit der EU, die Red.). Dabei hat sie in den letzten fünf Jahren mit ihren Initiativen sehr viele Niederlagen eingefahren.

Jetzt hat die SVP die klare Botschaft erhalten, dass diese Art von SVP nicht mehr gewünscht ist. Sie ist aber immer noch die grösste Partei, und sie vertritt immer noch ein konservatives, in der Schweiz gut abgestütztes Elektorat.

swissinfo.ch: SP und FDP sind die zweiten Verlierer. Welche Rollen spielen sie in der neuen Konstellation?

C.L.: Beide Parteien müssen ihre Situation sehr genau analysieren. Insbesondere, an wen sie Wählende verloren haben. Beide stehen jetzt unter ganz starker Konkurrenz: Die FDP durch die Grünliberalen, die SP durch die Grünen. 

Beide sollten sich zusammentun, statt einander zu bekämpfen wie im Wahlkampf. Beide versuchten, damit zu punkten, dass sie sich gegenseitig auf den Kopf hauen. Das hat sich für beide nicht ausbezahlt.

swissinfo.ch: Die Stimmbeteiligung betrug gerade mal 45,1 Prozent, dabei war im Vorfeld über das Erreichen der 50%-Schwelle spekuliert worden. Das ist doch eine herbe Enttäuschung?

C.L.: Nicht zwingend. Erst muss man die Analyse machen. Aber wahrscheinlich hat sich die Struktur der Wählenden verändert. Wir haben einerseits Jüngere unter 35 Jahren, die gemäss meiner Schätzung stärker teilgenommen haben, insbesondere die jüngeren Frauen. 

Andererseits gingen die Männer über 70 weniger an die Urnen. Dieser zweite Effekt ist deutlicher, denn er hat den Bürgerlichen geschadet, während der erste Effekt den neuen Siegerparteien genützt hat.

swissinfo.ch: Was sind Ihre Learnings von den Wahlen 2019?

C.L.: Ich vertrete schon länger folgende These: Ab den 1980er-Jahren hatten wir eine ziemlich stabilen Stammwählerschaft, die auch eine grosse Sicherheit bezüglich Wahlprognosen ermöglichte. 

Jetzt gehen wir über zu einer grossen Unsicherheit. Sie betrifft die Themen, die heute globaler sind und die Mobilisierung, die viel volatiler ist. Das führt auch dazu, dass die Prognosen auch einmal nicht zutreffen können.

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