Serbien im Wahlkampf: «Aleksandar Vučićs Partei kontrolliert heute den gesamten Staatsapparat»
Der Schweizer Politikwissenschaftler Daniel Bochsler ist Professor an der Universität Belgrad in Serbien. Das Balkanland wählt in einem Monat. In den letzten Jahren vollzog der Präsident eine Aushöhlung demokratischer Institutionen. Gibt es nun eine Chance für einen Wechsel?
SWI swissinfo.ch: Der serbische Präsident Aleksandar Vučić hat die Neuwahlen erst vor wenigen Wochen auf den 17. Dezember angesetzt, obwohl sein Bündnis Bestand hat. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe, warum er diese vorgezogenen Neuwahlen wollte?
Daniel Bochsler: Dass es Neuwahlen gibt, ist schon länger bekannt. Es wurde einfach erst kurzfristig formalisiert.
Ob es klare Gründe gibt, weiss ich nicht. In den letzten zehn Jahren sind vorgezogene Neuwahlen auf eine Weise zur Regel geworden, selbst wenn sie politisch nicht nötig wären, weil es keine Koalitionskrise gibt.
Ein Auslöser könnten die Proteste von diesem Sommer gewesen sein.
SWI: Sie sprechen von den Anti-Gewaltprotesten, nach zwei Amokläufen – einem an einer Schule und einem durch einen Erwachsenen in der Region Belgrad.
DB: Die Protestwelle begann wegen diesen Amokläufen, aber richtete sich dann insgesamt auf die Frage der Gewalt und ein Regime, das in verschiedener Weise Auslöser und Förderer von Gewalt ist.
SWI: Der heutige Präsident Aleksandar Vučić war in den 1990er-Jahren Propagandaminister unter Slobodan Milošević. Später erfand er sich neu als Befürworter eines EU-Beitritts. In der heutigen geopolitischen Situation balanciert er zwischen Russland und der EU. Wie gelingt es Vučić so ambivalent und gleichzeitig erfolgreich zu sein?
DB: Inzwischen ist das nichts, was in Westeuropa unbekannt wäre: Giorgia Meloni ist eine italienische Regierungschefin, die sich von der Postfaschistin zur pragmatischen Rechtspolitikerin gewandelt hat.
Die sogenannte Fortschrittspartei entwickelte sich aus der Spaltung der serbisch-radikalen SNS-Partei als postfaschistische Strömung. Sie versucht sich als bürgernahe Mitte-Rechts-Partei zu verkaufen. Aleksandar Vučić selbst ist eine Figur, die bei vielen Serbinnen und Serben populär ist. Mit Allzeitpräsenz im Fernsehen, häufig nicht sehr politisch. Er hat Talent und setzt auf Klientelismus, Populismus, ein bisschen Nationalismus.
Damit spricht Vučić ein breites Spektrum an Bürgerinnen und Bürgern an. Nachdem seine Partei eine Regierungsmehrheit erlangte, ist es ihr gelungen mit undemokratischen Mitteln die demokratische Arena zu schliessen.
SWI: In der Schweiz waren Sie Co-Projektleiter des Democracy Barometers, der die Demokratie über viele Länder hinweg analysierte. Aus den Ergebnissen haben Sie unter anderem einen Artikel mitverfasst über Autoritarismus in Osteuropa. Da hielten Sie 2020 fest, dass «der politische Pluralismus in Serbien und Ungarn von den dominanten Regierungsparteien getilgt» worden war. Wie beurteilen Sie die Entwicklung seither?
DB: In Serbien hat sich die Demokratie weiter verabschiedet. Staat und Verwaltungsapparat werden durch die Regierung für parteipolitische Zwecke vereinnahmt. Medien, die nah am Regime stehen, werden für die Kampagne des Regimes genutzt. Unabhängig berichtende Medien erleben konstant Nachteile.
SWI: Was sind diese Nachteile?
DB: Sie werden aufgekauft oder ihre Reichweite wird beschränkt. Die wichtigste Frage ist die Sendelizenz. Regierungsunabhängige Fernsehstationen bekommen keine nationale Lizenz mehr. Und das Fernsehen ist halt, was die Leute am meisten konsumieren.
Die nationalen Fernsehlizenzen gehen an private Stationen mit bemerkenswert schlechtem Niveau. Berichterstattung, die dem Regime nicht nur nahesteht, sondern auch miserabel ist. Die Vergabe der Sendefrequenzen ist die folgenreichste Form der Einschränkung von Medienvielfalt.
Auch die Protestwelle machte das zum Thema, denn gewisse Privatsender, auf denen Vučić auch manche seiner präsidentiellen Ansprachen hält, haben ein gewaltverherrlichendes Programm.
SWI: Es gab diese Protestwelle, es gibt auch eine Opposition im Parlament. Doch gibt es eine reale Perspektive darauf, dass diese Wahlen einen Wechsel in Serbien herbeiführen?
DB: Das wird sich in den nächsten Wochen zeigen. In den Meinungsumfragen sinkt die Unterstützung der Regierungspartei. Allerdings gibt es keine geeinte Opposition. Ein Wechsel ist lokal, unter anderem in der Hauptstadt Belgrad, möglich. Landesweit ist er sehr unwahrscheinlich.
SWI: Wie würde ein Wechsel denn aussehen? Zur Opposition gehören teilweise ultranationalistische Parteien, die rechts der Fortschrittspartei stehen. Auch das grösste Bündnis um Marinika Tepić, in dem sich vor allem gemässigte Kräfte finden, ist sehr zersplittert.
DB: Das Bündnis ist einig in einer Frage, und das ist die zentrale Frage im Umgang mit diesem Typ Regime. Sie lautet: Will man zurück zu Demokratie und Rechtsstaat?
Und das ist eines der drängendsten politischen Probleme Serbiens. Schon seit Beginn der Protestbewegung versucht die Regierung, die Opposition auseinander zu dividieren. Die Regierung versucht, die Kosovo-Frage in den Vordergrund zu rücken, und zu zeigen, dass sich die Opposition in der Frage uneinig ist.
Die Opposition versucht das Thema eher zu meiden und betont die demokratischen Grundfragen: Wollen wir einen Rechtsstaat, die Verbindungen von Regierung und Mafia kappen – oder wollen wir so weitermachen?
Da besteht eine grössere Einigkeit, als man es vielleicht aus der Distanz denkt. Selbst wenn mit Liberalen und Grünen auch Faschisten mitmarschieren.
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SWI: Was würde nach einem unwahrscheinlichen Machtwechsel mit diesem Bündnis geschehen?
DB: Natürlich würden die Differenzen innerhalb des Bündnisses bald sichtbar. Doch interessanter wäre die Frage, wie lange die Fortschrittspartei von Aleksandar Vučić überleben würde. Die Regierungspartei lebt heute davon, dass sie Staat und Verwaltungsapparat kontrolliert. Die werden nicht aus ideologischen Gründen gewählt.
Die Partei wird unter anderem von staatliche Angestellten gewählt. Diese stehen unter grossem Druck und müssen unter Drohung von Jobverlust ihre Verwandtschaft mobilisieren. Verliert die Partei ihre Macht, verliert sie dadurch auch die Existenzgrundlage, und dürfte früher oder später auseinanderbrechen.
SWI: 2020 beurteilten Sie unter anderem die Folgen von Populismus für die wenig traditionsreichen Demokratien in Ungarn und Serbien. Ist es in Serbien drastischer, weil Ungarn als EU-Mitglied eher noch demokratischen Prinzipien folgen muss?
DB: Da wäre ich mir nicht sicher. Die Instrumente der EU gegenüber Mitgliedsstaaten sind zahnlos. Dies liegt am Einstimmigkeitsprozess innerhalb der EU – ungeachtet der Tatsache, dass sich die Mehrheit der Mitglieder als demokratisches Bündnis verstehen.
Gegenüber den Beitrittskandidaten kann die EU aber scharfe Demokratiekriterien aufstellen. Damit solche Kriterien Wirkung zeigen würden, muss der Beitrittsprozess wieder an Glaubwürdigkeit gewinnen.
Die Eskalation des russischen Angriffskrieges hat vieles verändert: Die EU muss die Beitrittsperspektive für die Ukraine, Moldawien und Georgien glaubwürdig aufzeigen. Dazu müsste sie den Beitrittsprozess im Westbalkan wiederbeleben, denn hier ist in den letzten zehn Jahren der Glaube an den EU-Beitritt geschwunden. Dies würde dann auch den Demokratiekriterien gegenüber Serbien und anderen Ländern der Region wieder Kraft verleihen.
SWI: Sie haben gesagt, auf lokaler Ebene sei bei diesen Wahlen am 17. Dezember ein Wechsel in Serbien möglich. Würde so ein lokaler Wechsel denn überhaupt irgendwas ändern, wenn Vučićs Fortschrittspartei gleichzeitig landesweit gewinnt?
DB: Die Fortschrittspartei hat heute eine beeindruckende Kontrolle des gesamten Staatsapparats. Mit Ausnahme von albanischen Mehrheitsgemeinden kontrolliert sie das Land. In den letzten lokalen Regierungen hat sie die Kontrolle mit illegalen Mitteln übernommen. Dadurch gibt es momentan nicht den kleinsten Zugang zum Verwaltungsapparat für die Opposition.
Ein Vorteil vom Regieren auf Gemeindeebene ist: Man kann zeigen, wie man es besser machen würde. Besonders wichtig ist die Hauptstadt, denn Serbien ist kein Land mit kleiner Hauptstadt wie die Schweiz.
Etwa ein Viertel der Landesbevölkerung wohnt in Belgrad. Wer hier regiert, hat eine wichtige Position – anders als in einem föderalistischen Land wie der Schweiz. Die Regierung von Belgrad ist ein Posten, um sich für eine künftige Präsidentschaftskandidatur aufzubauen.
Auch Zoran Đinđić, der erste demokratische Premierminister Serbiens, war zunächst Oberbürgermeister in Belgrad.
SWI: Als Wissenschaftler arbeiten Sie oft mit Daten und Zahlen. Aber spüren Sie als Professor der Universität Belgrad auch im Alltag, dass sich die Stimmung verändert?
DB: Natürlich sehe ich einiges in meinem Umfeld. Aber als Politikwissenschaftler habe ich gelernt, dass sich meine Wahrnehmung und mein Umfeld nicht mit der Wahrnehmung der Mehrheit deckt.
Bemerkenswert finde ich, wenn Bekannte, mit denen ich nie über Politik sprach, auf mich zukommen und mir Vorgänge etwa von ihrem Arbeitsplatz schildern: eine Unzufriedenheit und den Druck, den sie erleben, um an den Pseudodemonstrationen der Regierungspartei teilzunehmen.
Aber wir sollten nur mit grösster Zurückhaltung von der eigenen Wahrnehmung auf gesellschaftliche Tendenzen zu schliessen. Dazu brauchen wir bessere Anhaltspunkte, beispielsweise Meinungsumfragen.
Editiert von David Eugster.
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