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Als Anarchisten die Schweiz terrorisierten

Ein Banküberfall – und «Todesstrafe!», rief Schweiz

Comic-Zeichnung eines Mannes mit Bart, der mit einer Pistole zielt
Keine Gnade für die Täter: Dies die Reaktion in der Westschweiz, nachdem zwei Russen bei einem Banküberfall zwei Menschen erschossen hatten. Andrea Caprez

Da blieb die Schweiz erstaunlich lange cool: Anfang des 20. Jahrhunderts trieben anarchistische Flüchtlinge im Gastland ihr Unwesen. Doch eine Tat war der Blutstropfen zu viel: Der Banküberfall von Montreux 1907, bei dem zwei Russen einen Angestellten und auf ihrer Flucht einen Passanten töteten. "Todesstrafe", riefen Bürgerinnen und Bürger.

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Am Morgen des 18. September 1907 kommt es in Montreux am Genfersee zu einer Verfolgungsjagd wie in den Gangsterfilmen, die neuerdings in den Lichtspielhäusern gezeigt werden.

Zwei Männer hetzen durch die Avenue du Kursaal. «Haltet sie, haltet sie!», rufen Passanten. Dem Postangestellten Auguste Vuilliamoz gelingt es, einen der beiden zu Boden zu werfen. Der andere rennt, so ein Augenzeuge, «wie ein Hase» davon.

Wilde Szenen

Jules Favre, ein Notar, stellt sich ihm beherzt in den Weg. Der Flüchtende schiesst ihm eine Revolverkugel ins Bein und läuft weiter. Dem Coiffeur Georges Bär, der aus seinem Salon stürzt, ergeht es nicht besser. Auch er wird angeschossen.

In der Schopfergasse versperrt der Kutscher Octave Pittet dem Unbekannten den Fluchtweg. Ein Schuss. Ein Schrei. Pittet sinkt zu Boden, eine Kugel im Bauch. Der Schlosser Alfred Nicklès, der furchtlos die Verfolgung aufnimmt, hat Glück im Unglück – er kommt mit einem Streifschuss davon. 

Nun trifft endlich die Polizei ein. Sie macht den Flüchtigen, dem die Munition ausgegangen ist, im Hühnerhaus von Frau Terribilini dingfest.

Auf dem Polizeiposten hüllen sich die beiden Verhafteten in hartnäckiges Schweigen. Trotzdem sind die Beamten überzeugt, dass es sich um russische Anarchisten handelt. Derweil liegt in der Banque de Montreux der Kassier Oskar Gudel tot in einer Blutlache. 

Der erschossene Beamte liegt auf dem Boden der Bank in Montreux
Der Bankbeamte Oskar Gudel liegt tot am Boden, nachdem ihn einer der russischen Räuber mit drei Schüssen niedergestreckt hatte. zvg

Ein Augenzeuge berichtet, die Räuber hätten einen Fünfmarkschein zum Wechseln vorgelegt. Während Gudel das Geld herauszählte, habe ihm einer der Räuber aus nächster Nähe in den Kopf geschossen, der andere habe sich auf den offenen Safe gestürzt und Geldscheine in einen Beutel gestopft, den er um den Hals trug. Dann hätten die Täter schleunigst das Weite gesucht. 

Der Direktor der Bank, den man telefonisch benachrichtigt hat, ist völlig ausser Fassung: «Armer Bursche!», jammert er mit Tränen in den Augen. «Armer Gudel! Ein so anständiger junger Mann!»

Lynchen knapp verhindert

Die Täter werden noch am selben Abend für die erkennungsdienstliche Behandlung nach Lausanne überführt. Die Polizisten haben «alle Mühe der Welt», sie vor der mehrhundertköpfigen Menge zu schützen, die droht, die beiden zu lynchen. Auch in Lausanne kocht die Wut hoch. Hier werden sogar die Beamten, die sich schützend vor die Gefangenen stellen, tätlich angegriffen.

«Wie in Russland», titelt die Zeitung La Liberté am folgenden Tag und bringt – neben den Details des Dramas – ein Interview mit dem Postangestellten, der einen der Täter gestellt hat.

«Ein Individuum von zweifelhaftem Aussehen – ein richtiges Gangstergesicht – rannte auf der gegenüberliegenden Strassenseite in meine Richtung. Ohne zu zögern warf ich mich auf ihn und konnte ihn anhalten. Kurz darauf kamen die Zeugen, die mir erklärten, was sich zugetragen hatte. Einer, ein Arbeiter mit einer Eisenstange in der Hand, war so empört über den schändlichen Überfall, dass er das Individuum erschlagen wollte. Ich musste ihn zur Seite nehmen und beruhigen.»

Die Abendzeitungen bestätigen den Verdacht, dass es sich bei den Tätern um Russen handelt. Einer hat angegeben, er heisse Maxime Daniekoff. Der Schütze nennt sich Paul Nilista. Keiner der Beamten realisiert, dass er sie veräppelt. «Nilista» ist nichts anderes als eine Verballhornung des Wortes «Nihilist». Es bezeichnet die Anhänger der in Russland weit verbreiteten philosophisch-politischen Bewegung, welche die Autorität von Staat, Kirche und Familie ablehnt und eine freiheitliche, atheistische Gesellschaft proklamiert. 

Es handle sich um «düstere Verbrecherfiguren», liest man in der Presse, sie hätten den Coup minutiös vorbereitet und seien wohl professionelle Verbrecher. Man habe bei ihnen gefunden: Gold, Geld, ein Dolch, moderne Pistolen, Magazine und Munition, sowie je einen Stoffsack für die Beute.

Zweites Todesopfer

Die Empörung ist riesig. Die Räuber, so La Liberté, seien «Anarchisten, deren Prinzipien sich auf die Abschaffung von Ordnung und Gesetz» beschränkten. Die Tatsache, dass der Kutscher inzwischen an seinen Verletzungen gestorben ist, schürt die Wut in der Bevölkerung genauso weiter wie die detaillierten Beschreibungen des Opfers in der Presse. 

«Sein aufgerissener Mund, wie bei der Anstrengung eines letzten Röchelns, die halboffenen Augen, in denen man noch immer den Schrecken lesen konnte, die konstatierten Verletzungen erlauben es mehr oder weniger, das Drama zu rekonstruieren.»

Getötet wegen Schreien

Gudel habe geschrieen, als er mit einem Revolver bedroht wurde. Darauf habe der Täter geschossen. «Schwer verletzt stiess Gudel einen zweiten Schrei aus, einen Schrei aus Schmerz und Schrecken, er versuchte, sich am Schalterbrett festzuhalten. In diesem Moment wurde er von einem dritten Schuss oberhalb des Kiefers getroffen, neben dem Ohr; das Geschoss durchbohrte sein Hirn und war tödlich.»

Solche Verbrechen, erklärt die Zeitung La feuille d’avis du Valais, seien in Russland an der Tagesordnung. «Man gewöhnt sich fast an diese Kurzmeldungen, beachtet sie kaum, umso mehr, da sie sich in einem fernen Land abspielen. Doch dieses Mal spielt sich das Drama nicht mehr in Russland ab, sondern in der Schweiz, ganz nah bei uns, in Montreux.»

Man müsse sich fragen, wie lange die Schweiz noch dulden wolle, als «Experimentierfeld» für Anarchie und Verbrechen missbraucht zu werden. «Die Todesstrafe ist die verdiente Strafe für solche Räuber. Man darf nicht zulassen, dass die russischen Terroristen das Gefühl haben, sie könnten im Land, das ihnen Asyl gewährt, ungestraft ihre blutigen Gangstertaten begehen.»

Es gab auch besonnene Stimmen

Die markigen Worte werden gehört. Als man die Täter nach Vevey ins Gefängnis bringt, fordert eine aufgebrachte Menge lauthals die Todesstrafe. Es fliegen Steine, die Scheiben des Wagens, in dem sie transportiert werden, gehen in die Brüche, und erboste Bürger schlagen mit ihren Gehstöcken nach den Gefangenen.

Zwar warnt die christlich-soziale Zeitung L’Essor vor dem «fremdenfeindlichen Wind», der dazu führen könnte, dass die Meinungsfreiheit und das Asylrecht eingeschränkt würden. «Starke Völker», so die Argumentation, «haben es nicht nötig, ausländische Elemente auszuweisen; sie integrieren oder zumindest beeinflussen diese.»

Frontseite der Zeitung Impartial von 1907 mit Zeichnungen der beiden inhaftierten Täter
Üble Gesellen: Die beiden gestellten russischen Mörder, wie sie die Zeitung LÏmpartial ihrer Leserschaft präsentierte. zvg
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Man solle Gratiskurse für Ausländer anbieten «über Ursprung und Prinzipien unserer Demokratien, über die Grundlagen der gesellschaftlichen und individuellen Moral und unserer Zivilisation.» 

Die Mehrheit sieht das wohl anders: Innert kurzer Zeit bildet sich in Vevey eine Bürgerwehr, die für Ruhe und Ordnung sorgen will und der Polizei ihre Dienste anbietet. «Das Beispiel von Vevey könnte Schule machen», sinniert La Liberté, «es ist nötig, dass die Ganoven aller Art wissen, dass wir genug haben von ihren Launen und ihrem Terror.»

Endlich identifiziert

Die Befragung der Gefangenen fördert widersprüchliche Aussagen und offensichtliche Lügen zu Tage. Immerhin gelingt es der Polizei, die Identität von «Nilista» festzustellen. Er heisst Nikolay Divnogorsky, ist 26 Jahre alt und verheiratet. Weil er ein glühender Anhänger von Tolstoï ist, nennen seine Freunde ihn Nicolas Tolstoï. 

Die Mutter gibt in Russland zu Protokoll, der Sohn sei aufs Land gegangen, um unter Bauern zu leben und die Revolution zu predigen. In Lumpen sei er nachhause zurückgekehrt, habe die Absicht geäussert, Landwirtschaft zu studieren. Dann sei er verschwunden und habe jahrelang nichts mehr von sich hören lassen.

Es ist nicht klar, ob die Mutter schlecht informiert ist oder ob sie den Sohn schützen will. Divnogorsky ist nämlich Mitbegründer einer revolutionären Zelle in St. Petersburg, die sich der «Propaganda der Tat» verschrieben hat. Ihre Mitglieder verübten Attentate und beschafften die Mittel für den revolutionären Kampf mittels Raubüberfällen und Erpressungen.

Schauspieler

Divnogorsky wurde aber von einem Spitzel verraten und in die berüchtigte Peter-und-Paul-Festung gesperrt. Hier mimte er so lange den Verrückten, bis er ins Krankenhaus überstellt wurde, wo ihn Kameraden befreiten und ihm halfen, ins Ausland zu fliehen.

Divnogorsky litt laut seiner Mutter schon als Kind unter Schwindelanfällen, später soll er an Neurasthenie erkrankt sein, einer Modekrankheit des 19. Jahrhunderts, die sich in depressiver Erschöpfung äussert, ähnlich dem heutigen Burn-out. 

Während seiner Haft in der Schweiz behauptet er immer wieder, er leide unter Halluzinationen. Der Psychiater, der ihn daraufhin untersucht, kommt zum Schluss, dass er kerngesund ist und attestiert ihm volle Zurechnungsfähigkeit.

Sühne im Prozess

Im Mai 1908 kommt es zum Prozess. Der Mittäter von Divnogorsky behauptet nun, er sei Uhrmacher und heisse Maxime Doubowsky. Übereinstimmend erklären die Angeklagten, sie hätten die Bank nur überfallen, um die Beute der revolutionären Bewegung in Russland zu schicken, sie hätten aber nie die Absicht gehabt, jemanden zu töten. 

«Der Revolverschuss ist zufällig losgegangen. Ich habe den Kopf verloren», beteuert Divnogorsky. «Ich bedaure den Tod des jungen Kassierers aufrichtig.» Die Reue hilft ihm wenig. Er wird wegen vorsätzlicher Tötung zu lebenslanger Haft verurteilt. Doubowsky muss für 20 Jahre ins Gefängnis, obwohl er erwiesenermassen keine Gewalt angewendet hat.

Im Gefängnis versucht Divnogorsky, sich umzubringen. «Zuerst stürzte er sich die Kellertreppe hinunter, übrigens ohne sich zu verletzten», berichtet L’Impartial, «dann versuchte er sich zu töten, indem er sich mit den Füssen an den Gitterstäben seiner Zelle aufhängte; man konnte ihn rechtzeitig herunterholen.» 

Im siebten Monat der Haft gelingt es Divnogorsky, seine Matratze anzuzünden. «Einmal mehr konnten die Wärter ein Unglück verhindern. Aber es entstanden giftige Gase, die genügten, damit sich Divnogorsky eine Lungenentzündung zuzog; dieser Krankheit ist er erlegen.» Die kurze Zeitungsnotiz vom 13. Dezember 1908 trägt sinnigerweise den Titel «Epilog eines Dramas».

Attentate in der Schweiz

Ein Blick in die Schweizer Geschichte zeigt, dass politisch motivierte Gewalttaten hierzulande weitaus häufiger waren als uns dies heute bewusst ist. Das erste terroristische Attentat auf Schweizer Boden galt der Kaiserin von Österreich. Sie wurde 1898 vom Anarchisten Luigi Luccheni mit einer Feile erstochen. Sisi war das erste Todesopfer, das der anarchistische Terror in der Schweiz forderte, aber sie war nicht das einzige. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte die Schweiz eine eigentliche Welle von terroristischen Gewalttaten. Anarchisten überfielen Banken und die Polizeikaserne in Zürich, sie versuchten, Züge in die Luft zu jagen, sie erpressten Industrielle, verübten Bombenanschläge und brachten politische Widersacher um.

Meist stammten die Täter aus dem Ausland, es waren Russen, Italiener, Deutsche und Österreicher, die in der Schweiz politisches Asyl gefunden hatte. Nur eine Minderheit der Täter waren Schweizer, und meist standen sie in engem Kontakt zu ausländischen Anarchisten. Der Schrecken, den diese Gewalttäter verbreiteten, war meist grösser als der Schaden, den sie anrichteten. Und manchmal gingen sie so stümperhaft vor, dass sie sich beim Bau ihrer Bomben versehentlich selber in die Luft sprengten.

Für die Schweiz waren die anarchistischen Gewalttaten eine politische Herausforderung: Das Land reagierte mit Ausweisungen und Gesetzesverschärfungen. Im sogenannten Anarchistengesetz wurde 1894 das Strafmass für alle mit Hilfe von Sprengstoff begangenen Verbrechen heraufgesetzt und auch vorbereitende Handlungen unter Strafe gestellt. Gleichzeitig weigerte sich die Schweiz jedoch, die Asylgesetze, die politische Verfolgten grosszügig Schutz bot, zu verschärfen.

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