Setzt das Schweizer Stimmvolk den Mindestlohn durch?
Die Gewerkschaften verlangen einen gesetzlichen Mindestlohn auf nationaler Ebene, um die Armut zu verringern und Lohndumping in der Schweiz zu bekämpfen. Für die Arbeitgeber hingegen handelt es sich bei der Idee um eine staatliche Einmischung in ein System der freien Marktwirtschaft. Das letzte Wort hat am 18. Mai das Stimmvolk.
Von den höchsten bis zu den tiefsten Löhnen – die Lohntüte ist in den letzten Jahren in den Vordergrund der politischen Debatten in der Schweiz gerückt. In weniger als eineinhalb Jahren ist es bereits das dritte Mal, dass das Stimmvolk zum obersten Richter in Lohnfragen wird.
Die Volksinitiative «Für den Schutz fairer Löhne (Mindestlohn-Initiative)», eingereicht vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB), sieht einen gesetzlichen Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde vor, was bei einer Beschäftigung von 42 Stunden pro Woche rund 4000 Franken Monatslohn entspricht. Dieser Betrag soll regelmässig an die Entwicklung der Löhne und Preise angepasst werden.
Die Mindestlohn-Initiative wurde 2012 vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund mit 112’301 gültigen Unterschriften bei der Bundeskanzlei eingereicht.
Sie verlangt einerseits, dass Bund und Kantone die Löhne in der Schweiz schützen und Mindestlöhne in Gesamtarbeitsverträgen fördern sollen.
Andererseits fordert sie die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 22 Franken pro Stunde.
Die Regierung und ein Grossteil des Parlaments aus Rechts- und Mitte-Parteien empfiehlt die Initiative zur Ablehnung.
Da es sich bei Initiativen immer um eine Änderung der Bundesverfassung handelt, ist für eine Annahme dieser Vorlage am 18. Mai sowohl das Ja des Stimmvolks wie auch jenes der Kantone nötig.
Anstand gegen Realismus
Dies entspricht ungefähr dem Schwellenwert, unterhalb jenem sich die tiefsten Löhne befinden, die rund 330’000 Personen beziehen, also etwa jeder zehnte Angestellte.
«Mit dem gesetzlichen Mindestlohn, den die Initiative vorsieht, würden alle diese Personen einen anständigen Lohn erhalten. Arbeit muss anständig entlöhnt werden. Jeder Mensch sollte von seiner Arbeit leben können», sagt Ewald Ackermann vom SGB gegenüber swissinfo.ch.
«Wir verteidigen die Niedriglohn-Politik nicht, doch es ist klar, dass die Lohnpolitik realistisch und differenziert sein muss», antwortet Alexandre Plassard vom Schweizerischen Arbeitgeberverband. «Werden die Mindestlöhne nicht mehr von den Sozialpartnern ausgehandelt, die sich auf lokale Bedingungen und wirtschaftliche Möglichkeiten verständigen, werden diese auf zu hohem Niveau und einheitlich festgelegt, so dass automatisch Jobs verschwinden werden.»
Ein Beispiel seien verschiedene Industriebetriebe in der Schweiz, die bereits unter Druck des starken Frankens stünden, betont Swissmem, der Verband der Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie. Mit einem Mindestlohn von 4000 Franken pro Monat würden die Produktionskosten steigen, und somit sei man international nicht mehr konkurrenzfähig.
Dies würde zur Verlagerung ins Ausland, Rationalisierung und Automatisierung führen, das heisse Streichungen von Arbeitsplätzen, warnt Swissmem-Präsident Hans Hess. Den Arbeitsplatz verlieren könnten besonders jene Arbeitnehmenden, denen die Initiative helfen möchte: Nicht oder kaum qualifizierte Personen.
«Mit diesem Schreckgespenst sollen Ängste geschürt werden. Die Gegner haben solche Szenarien bereits 1998 gemalt, als die Gewerkschaften für einen Mindestlohn von 3000 Franken kämpften», antwortet Ackermann. «Die Grossverteiler haben den Mindestlohn angepasst, wie auch das Gastgewerbe, das zwischen 1998 und 2013 den Mindestlohn um 50% angehoben hat. Trotzdem ist es zu keinem Stellenabbau gekommen. Im Gegenteil: Die Arbeitslosenquote ist in diesem Sektor von 13 auf 10,5% gesunken.»
Der Gewerkschafter ergänzt, der Grossteil der Tieflöhne finde sich in der Binnenwirtschaft, wie etwa bei persönlichen Dienstleistungen (Coiffeur, Körperpflege, Wäschereien…), im Detailhandel, in der Hotellerie und in Restaurants. «Wie kann man solche Dienstleistungen auslagern? Soll sich die Schweizer Bevölkerung vielleicht ihre Haare in Polen oder Ungarn schneiden lassen?»
Ackermann gibt zu, dass vielleicht der eine oder andere Bauernbetrieb Mühe haben könnte, seinen Angestellten 4000 Franken pro Monat zu bezahlen. «In diesem Sektor aber sollte man die Produktionsmethoden verbessern», ergänzt er. Die Exportindustrie hingegen werde «nur sehr marginal» betroffen sein.
Der Medianlohn entspricht dem genauen Mittel aller Löhne in der Schweiz: 50% liegen darüber und 50% darunter.
2010, auf das sich die Festsetzung des Mindestlohnes in der Initiative auf 4000 Franken pro Monat beruft, lag der Durchschnittsbruttolohn auf nationaler Ebene bei 5979 Franken pro Monat; Frauen verdienten 5221, Männer 6397 Franken.
In drei grossen Regionen lag das durchschnittliche Einkommen deutlich darüber (Zürich: 6560Fr., Nordwestschweiz: 6437 Fr. und Genfersee-Region: 6422 Fr.), im Tessin mit 5358 Fr. deutlich darunter.
Branchenspezifisch begann der Medianlohn bei den persönlichen Dienstleistungen (Coiffeur, Kosmetik, Wäschereien) mit 3695 Fr. und dem Beherbergungssektor mit 4024 Fr. und ging bis 9292 Fr. in der Unternehmensberatung und 9500 Fr. in Finanzdienstleistungen.
Laut einer internationalen Definition sind Tieflöhne solche, die zwei Drittel unter dem Medianlohn liegen. 2010 waren diese Löhne unter 3986 Fr. bei einer Beschäftigung von 40 Stunden pro Woche.
Insgesamt waren über 275’000 Personen im Bereich niedriger Löhne beschäftigt, was 10,5% aller Arbeitsplätze entspricht.
Auf Branchen aufgeschlüsselt waren bei persönlichen Dienstleistungen die Löhne am tiefsten: 51% verdienten weniger als 22 Fr. pro Stunde. Auch in den Bereichen Bekleidung, Hauswirtschaft und Reinigung bezogen 41-45% Tieflöhne. In der Beherbergung, den Restaurants und auf Bauernbetrieben waren es mehr als 30%.
Bei den Frauen lag mit 18,4% der Anteil jener, die einen tiefen Lohn beziehen, deutlich über jenem bei den Männern (5,9%).
(Quellen: Bundesamt für Statistik und Staatssekretariat für Wirtschaft)
Nationales Minimum, weltweites Maximum
Für die Arbeitgeber ist nicht nur der von der Initiative geforderte Mindestlohn – ein «Weltrekord», auch wenn Lebenshaltungskosten und Medianlohn berücksichtigt würden – nicht akzeptabel, sondern auch die Tatsache, dass der gesetzliche Mindestlohn durch den Staat bestimmt und überall praktisch gleich sein sollte.
Das «widerspricht dem Grundsatz des marktgerechten Lohnes und ist nicht vereinbar mit einer liberalen Wirtschaftsordnung», sagt Plassard. «Es fällt nicht in die Rolle des Staates, die Löhne festzulegen. Das ist ein Vorrecht der Sozialpartner.»
Laut den Unternehmern zerstört die SGB-Initiative das konsolidierte schweizerische System der Gesamtarbeitsverträge (GAV), die zwischen den Sozialpartnern unter Berücksichtigung der regionalen und branchenspezifischen Bedingungen ausgehandelt werden. So unterschieden sich die Lebenshaltungskosten von Region zu Region, erklärt der Arbeitgeber-Vertreter.
Für die Gewerkschafter handelt es sich aber um ein Instrument, um in bestimmten Regionen und gewissen Wirtschaftsbranchen, die weitgehend auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen sind, ein Ende des Lohndrucks herbeizuführen. Dies trotz der Annahme der Volksinitiative «gegen Masseneinwanderung» der Schweizerischen Volkspartei (SVP), mit der die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte in die Schweiz gebremst werden soll.
Im Moment ist unklar, wie die SVP-Initiative umgesetzt werden soll und was mit den Bilateralen Verträgen zwischen Bern und Brüssel geschehen wird. Doch selbst wenn der freie Personenverkehr mit der Europäischen Union nicht mehr gelte, spreche dieser Initiativtext von Quoten für ausländische Arbeitnehmende nach den Bedürfnissen der Wirtschaft, bemerkt Ackermann.
«Wenn sie dazu gezwungen werden, einen Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde zu bezahlen, werden die Arbeitgeber gar kein Interesse mehr daran haben, Arbeitnehmer aus dem Ausland kommen zu lassen, die nicht über die gleiche Ausbildung wie jene in der Schweiz verfügen, und denen sie weniger zahlen müssen.»
Gesamtarbeitsverträge fördern
Doch Ewald Ackermann hat noch mehr Argumente: Der von der Mindestlohn-Initiative vorgeschlagene Verfassungsartikel «ist ein wirksames Instrument gegen jede Form von Lohndumping, weil er auch von Bund und Kantonen verlangt, die Festlegung von Mindestlöhnen für Ort, Beruf und Branche in Gesamtarbeitsverträgen wie auch deren Überwachung zu fördern», unterstreicht der Gewerkschafter. Heute sind lediglich 49% der Beschäftigten in der Schweiz einem GAV unterstellt, und von diesen gilt für 80% ein Mindestlohn.
Die Verpflichtung des Staates, GAV zu fördern, ist lediglich ein Faktor der starken Opposition von Arbeitgeberseite gegen die Initiative. Dieser Verfassungsartikel «würde tatsächlich eine Verpflichtung festschreiben, Gesamtarbeitsverträge abzuschliessen. Wir sind Förderer der Vertragsfreiheit der Sozialpartner und halten daran fest, dass GAV-Verhandlungen freiwillig bleiben sollen. Wir hängen sehr an dieser Vertragsfreiheit», sagt Alexandre Plassard.
Im Kanton Wallis wird sich das Stimmvolk am 18. Mai gleich zwei Mal zum Thema Mindestlohn äussern, denn es steht auch ein ähnlicher Vorschlag auf kantonaler Ebene an.
In diesem Fall handelt es sich um einen Mindestlohn von 3500 Fr. für 13 Monate, was einem durchschnittlichen Monatslohn von 3791 Fr. entspricht.
Bisher sind in den Kantonen vier solche Initiativen zur Abstimmung gekommen. In Waadt und Genf wurden sie abgelehnt, in Neuenburg und im Jura angenommen. Im Kanton Tessin ist eine Initiative hängig.
(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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