Warum die «Anti-HIV»-Pille in der Schweiz so schwer zugänglich ist
Die Schweiz war ein Pionierland in der Aids-Prävention. Doch heute hinkt sie anderen Ländern hinterher. "PrEP", ein effizientes Präventionsmedikament, ist nur schwer zu erhalten. Ärzte sehen sich gezwungen, ihren Patienten zu empfehlen, dieses im Ausland zu kaufen.
Ein Mensch, der mit HIV angesteckt wird, ist heute nicht mehr zum sicheren Tod verurteilt. Und mit einer wirksamen Behandlung besteht auch kein Risiko mehr, dass das Virus bei sexuellen Kontakten weitergegeben wird.
Das ist nicht neu: Bereits 2008 wurde die Information als «Swiss Statement»Externer Link publiziert. Wie eine Bombe eingeschlagenExterner Link hatte damals die Stellungnahme der Eidgenössischen Kommission für Aidsfragen (seit 2012 Eidgenössische Kommission für sexuelle GesundheitExterner Link) und der Fachkommission Klinik und Therapie des Bundesamts für GesundheitExterner Link (BAG) in der «Schweizerischen Ärztezeitung».
Doch auch zehn Jahre später erschreckt das Gespenst Aids die Menschen weiterhin, und es kursieren immer wieder Missverständnisse. Deshalb werden HIV-positive Menschen weiterhin häufig diskriminiert. Bis Mitte November verzeichnete die Aidshilfe Schweiz 122 Fälle von Diskriminierung in verschiedenen BereichenExterner Link, ein neuer Rekord.
Um ihre Botschaft besser unter die Bevölkerung zu bringen, lanciert die Aidshilfe Schweiz eine neue Kampagne unter dem Motto «Gemeinsam für die Liebe und die Lust, gemeinsam gegen die Angst»Externer Link. Die Kernbotschaft ist: «HIV-positive Menschen mit unterdrückter Virenlast – das bedeutet, sie nehmen eine antiretrovirale Therapie ein und lassen sich regelmässig testen – geben das Virus nicht mehr weiter», wie die Aidshilfe schreibt.
Doch schon bevor die Kampagne am Welt-Aids-Tag vom 1. Dezember offiziell lanciert wird, kam es bereits zu Kontroversen. So befürchten einige eine Banalisierung des Problems. «Man suggeriert, dass eine Aidstherapie als ‹Pille danach› verstanden wird, und untergräbt die anderen Kampagnen», zitierte der Tages-AnzeigerExterner Link den Immunologen Beda Stadler.
Alexandra Calmy versteht die Kontroverse um die Botschaft der Aidshilfe Schweiz nicht. Die Leiterin der Abteilung HIV-Aids an den Universitätsspitälern Genf glaubt nicht, dass die Kampagne die Menschen ermutigt, auf Kondome zu verzichten, sondern dass sie eine korrekte und wichtige Botschaft transportiert.
«Ich bin schockiert, wenn ich die Ängste sehen, die heute noch um HIV-Positive herum herrschen. Zwar leben die Patienten gut mit der Therapie, doch sie leiden unter dem Klima.»
Das Trauma der Aids-Epidemie in den 1980er-Jahren scheint das kollektive Gedächtnis nachhaltig geprägt zu haben. Noch heute werden im Kino tragische Geschichten von Menschen erzählt, die von der Krankheit heimgesucht werden. «Die Wissenschaft ist schneller vorangekommen als die öffentliche Meinung», hält Calmy fest. Sie bedauert einen Mangel an Informationen.
«PrEP», eine kleine Revolution
Gleichzeitig mit den Therapien ist auch die Prävention fortgeschritten. Das Medikament «PrEP» («Prä-Expositions-Prophylaxe») ist einer der wichtigsten Fortschritte in diesem Bereich. Seine Wirksamkeit wurde in verschiedenen Studien nachgewiesen. Doch in der Schweiz ist es schwer zu bekommen.
«Bis heute sind Arzneimittel gegen HIV in der Schweiz nicht als präventive Behandlung zugelassen», beantwortete der Bundesrat (Landesregierung) eine Interpellation des sozialdemokratischen Nationalrats Angelo BarrileExterner Link. Die Konsequenz: Die Ärzte, die es verschreiben, tun dies unter Angabe eines anderen Grundes und in eigener Verantwortung.
«Niemand kann fast 900 Franken monatlich für diese Behandlung ausgeben. Wir müssen deshalb kreativ sein und alternative Möglichkeiten suchen.» Alexandra Calmy
Unter diesen Voraussetzungen kann das Medikament auch nicht von der Krankenkasse übernommen werden. Zudem wird es in der Schweiz zu hohen Preisen angeboten: 899,30 Franken kostet eine Packung mit 30 Tabletten, von denen pro Tag eine eingenommen werden muss. Generika sind nicht erhältlich, weil deren Einführung vom Bundespatentgericht blockiert wurde.
Zum Vergleich: In Frankreich kostet ein Generikum, das zudem von der Krankenkasse übernommen wird, weniger als 180 Euro für 30 Tabletten, in Deutschland weniger als 80 Euro, und Online ist die Packung für 40 Euro erhältlich, wie die Aids-Gruppe Genf in einer Mitteilung schrieb.
Die Gruppe schätzt, dass «dieser Preis die Menschen zum Kauf im Internet zwingt, mit all den Gefahren, die dies für ihre Gesundheit mit sich bringt». Die Organisation verweist Betroffene, die ein Arztrezept haben, auf zuverlässige und billigere Medikamente.
Zum Bezug im Ausland gezwungen
Ärztin Calmy empfiehlt ihren Patientinnen und Patienten, sich die Tabletten im Ausland zu besorgen, etwa in Frankreich oder Deutschland: «Niemand kann fast 900 Franken monatlich für diese Behandlung ausgeben. Wir müssen deshalb kreativ sein und alternative Möglichkeiten suchen.»
Das ist auch die Lösung, die Beat für sich gefunden hat. Wenn der 32-jährige Berner das Rezept von seinem Arzt erhalten hat, fährt er nach Deutschland, um das «PrEP» zu kaufen. Als Mann, der Sex mit Männern hat (MSM)Externer Link, gehört er einer Gruppe von Menschen an, die einem grösseren Infektionsrisiko ausgesetzt sind. «Vorher lebte ich in ständiger Angst, auch wenn ich regelmässig Screening-Tests machte», sagt er.
Seit Beat «PrEP» nimmt, fühlt er sich sicher. Das bedeutet jedoch nicht, dass er bedenkenlos Risiken eingehen oder völlig auf den Gebrauch von Kondomen verzichten würde.
«Ich vertraue nicht immer auf das, was meine Sexualpartner behaupten. Wie kann ich sicher sein, ob er das Medikament korrekt einnimmt? Ich selber weiss, dass ich es nehme und kann eher beruhigt sein, sollte ich ungeschützt Sex haben.»
Zudem gehört zur Behandlung auch ein vierteljährliches Screening für andere sexuell übertragbare Krankheiten (STD) wie Syphilis, Gonorrhö oder Chlamydien. Ein weiterer Faktor, der Beat beruhigt.
«Verhältnis zur Sexualität verändert»
Auf homosexuellen Dating-Websites werden die Nutzer jetzt dazu aufgerufen, ihren HIV-Status offenzulegen: negativ, negativ mit «PrEP», positiv oder positiv nicht nachweisbar. So etwa auf der Plattform Grindr:
«Das Medikament ‹PrEP› hat in Beziehungen zwischen Männern eine wichtige Rolle eingenommen. Ich habe den Eindruck, es hat das Verhältnis zur Sexualität verändert», sagt der 32-jährige Gilles*. Er hat sich aber entschieden, keine präventive Behandlung zu machen, auch wenn er ebenfalls der Risikogruppe MSM angehört.
«Ich habe keine Lust, ein Medikament einzunehmen, wenn das nicht absolut notwendig ist», sagt er. Er hat das Gefühl, das Medikament könnte seinem Körper nicht guttun. Dafür ist er doppelt so vorsichtig.
Die meisten Männer, mit denen er Kontakte pflege, würden «PrEP» zu sich nehmen, sagt Gilles. «Das schafft einen gewissen sozialen Druck, der die Menschen dazu ermutigt, sich einer Behandlung zu unterziehen. Einige Männer gehen gar keine Beziehung mit jemand ein, der es nicht nimmt, und solche, die ungeschützten Verkehr wünschen, sind häufiger geworden», so Gilles.
Erfreuliche Zahlen
Calmy erinnert daran, dass sich Interessentinnen und Interessenten für «PrEP» zuallererst an medizinisches Fachpersonal richten sollten. «Es ist ein wirksames Medikament mit sehr wenigen Nebenwirkungen. Wir kennen es sehr gut und wissen, wie man es perfekt einsetzt.» Obwohl eine medizinische Nachkontrolle unerlässlich ist, gibt es keine spezifischen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um ein Rezept zu erhalten.
Generell ist HIV auch in der Schweiz auf dem Rückzug. 2017 verzeichnete das BAG 445 neue Fälle, 16% weniger als 2016. Neben der Zunahme der Screenings ist Calmy der Ansicht, dass der Einsatz von «PrEP» ebenfalls zu diesem Rückgang der Fallzahlen beigetragen hat. «Es ist ein guter Schutz für Personen, bei denen das Präservativ nicht immer eine Option ist», sagt die Spezialistin.
*Fiktiver Name
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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