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Sicherheit in der humanitären Hilfe: Eine NGO-Weste schützt heute nicht mehr

Das UN-Hauptquartier in Bagdad nach dem Angriff
Am 19. August 2003 wurden bei einem Terroranschlag auf das Gelände der Vereinten Nationen beim Canal Hotel in Bagdad zweiundzwanzig internationale und einheimische UNO-Mitarbeiter:innen getötet und über hundert Menschen verletzt. Keystone / Evan Vucci

20 Jahre nach dem tödlichen Bombenattentat auf die UNO-Mission in Bagdad fühlen sich Hilfswerkmitarbeitende immer noch nicht sicher. Denn die Bedrohung wächst.

Wie andere Iraker:innen, die in den frühen Nullerjahren vor Ort für die UNO arbeiteten, war Mujahed Mohammed Hasan voller Optimismus und Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sein Land.

Der irakische Diktator Saddam Hussein wurde vor kurzem nach einer Invasion der USA und deren Verbündeten abgesetzt und die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen im Irak (UNAMI) wurde geschaffen, um die Entwicklung und die politische Versöhnung zu unterstützen und die humanitäre Hilfe zu koordinieren.

«Es war die glücklichste Zeit meines Lebens», sagt Hasan gegenüber SWI swissinfo.ch. «Für humanitäre Anliegen war ich sehr leidenschaftlich. Dies inspirierte mich, für die UNO zu arbeiten, die eine globale Reichweite hat und die Möglichkeit, das Leben von zahllosen Individuen positiv zu beeinflussen. Jedoch hatten wir ein falsches Gefühl von Sicherheit, mit den gepanzerten Fahrzeugen, die das Gebäude umringten.»  

Als eine grosse Bombe, die in einem Lastwagen versteckt war, am 19. August 2003 vor den UNAMI-Büros explodierte, stellte dies Hasans Leben komplett auf den Kopf. Es zeigte auch den Hilfsorganisationen, dass es an der Zeit war, die Sicherheit ihrer Angestellten neu zu beurteilen.  

Hasan, der in der IT-Abteilung der UNO-Mission tätig war,  hatte gerade seinen Arbeitstag beendet, und plante, mit seinen Kolleg:innen eine oder zwei Runden Tischtennis zu spielen.

 »Ich sass an meinem Schreibtisch und beantwortete noch E-Mails, und plötzlich hat sich alles verändert. Der Ort füllte sich mit Rauch und Chaos und überall flog Glas herum. Ich versuchte zu verstehen, ob es real war oder nur ein Traum», sagte er. Es war nur eine Wand zwischen ihm und der Explosion, gehört hat er sie nicht, weil er inmitten ihres Schallvakuums war.

22 Menschen starben durch den Terroranschlag, und es gab mehr als 100 Verletzte, unter ihnen war auch Hasan, der am Kopf getroffen wurde. Er sagt, dass die Erholung von den ernsthaften Verletzungen, die er erlitten hat, zehn Jahre gedauert habe.

Seit er sich 2014 in den USA niedergelassen hat, arbeitet er wieder im humanitären Bereich. Er leitet nun die Non-Profit-Organisation Jannah, die Iraker:innen unterstützt, welche durch religiöse Gewalt vertrieben worden sind.

«Die Gewalt, die wir an diesem Tag erlebten, hatte bleibende Auswirkungen auf die ganze UNO und auf mich. Es prägte meine Einschätzung der Gefahren, die humanitär Arbeitende in Konfliktgebieten erwarten.»

Hilfsorganisationen im Aufholmodus

Für Menschen, die in der humanitären Branche tätig sind, hat sich die Sicherheitsumgebung, in der sie wirken, im Vergleich zu vor 20 Jahren verschlechtert. «Der Kontrast könnte kaum grösser sein», sagte Sofia Sprechmann, Generalsekretärin von CARE International in Genf.

Margaret Hassan, die Irak-Direktorin von CARE International, wurde in einer gefilmten Hinrichtung umgebracht, von einer Gruppe, die Verbindungen zum IS haben soll. Das war ein Jahr nach der Bombe in Bagdad.

Sprechmann sagt ‒  am Telefon im ecuadorianischen Quito ‒, dass die Roten Khmer noch aktiv waren, als sie vor 29 Jahren als Hilfswerkmitarbeiterin in Kambodscha angefangen hatte. Später arbeitete sie in Sri Lanka in Gebieten, wo die bewaffneten Tamil Tigers operierten. «In all dieser Zeit war unser bester Schutz das Tragen einer Weste mit einem NGO-Logo.»

Ein Mädchen beobachtet die vorbeifahrenden Helfer:innen auf einer Strasse
Das Tragen einer Weste mit dem Logo einer Nichtregierungsorganisation (NRO) bot den Helfer:innen früher Schutz. Jetzt werden die Westen an bestimmten Orten gemiede Afp Or Licensors

Seither ist es immer «normaler» geworden, dass Hilfswerkmitarbeitende zur Zielscheibe werden, von verschiedenen Akteur:innen. Auf Logos werde darum nun an gewissen Orten verzichtet, im Interesse der Sicherheit des Hilfswerkpersonals.

In Lateinamerika und in der Karibik war es die Zunahme von organisiertem Verbrechen, welche die Arbeit von humanitären Organisationen verkompliziert hat. «Gangs übernehmen, wenn Staaten abwesend sind», sagt Sprechmann.

In Haiti kontrollieren Gangs gemäss UNO-Schätzungen etwa 80% der Hauptstadt des Landes, inklusive der Hilfsgüter-Lieferrouten vom Hafen und des Zugangs zu ganzen Nachbarschaften. Mitarbitende humanitärer Organisationen sind potenziell Ziele von Kidnapping, weil davon ausgegangen wird, dass sie ein geregeltes Einkommen haben.

In der Zentralafrikanischen Republik – wo letztes Jahr 2,2 Millionen Menschen Unterstützung brauchten – haben Attacken auf NGO-Mitarbeitende durch Bandit:innen und bewaffnete Gruppierungen zugenommen, das Land gilt nun als eines der gefährlichsten für Hilfswerke.

«Man erwartet von uns, dass wir immer für Hilfswerksmitarbeitende da sind, selbst wenn sonst niemand da ist», sagte Denise Brown, die frühere UNO-Leiterin für humanitäre Einsätze in der Zentralafrikanischen Republik, die heute für die humanitären Einsätze in der Ukraine verantwortlich ist. «Das heisst, dass wir riesige Risiken eingehen.» 

Ende Juni wurde ein Medizinkonvoi im Einsatz für Médecins Sans Frontières in der Hauptstadt des Sudans überfallen, das Personal geschlagen und ausgepeitscht – in einem Land, wo seit Beginn des Machtkampfs zwischen der Armee und paramilitärischen Kräften im April 24,7 Millionen Menschen auf Unterstützung angewiesen snid.

Inststrumente, die es gibt

Für das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK), dessen Hauptquartier in Bagdad im Oktober 2003 bombardiert wurde, ist die Vertrauensbildung durch Kommunikation mit lokalen Akteuren entscheidend, um die Sicherheit der Angestellten zu gewährleisten.

«Ein Weg, wie das IKRK versucht, die Gefahren beim Einsatz in (Konfliktgebieten) zu reduzieren, ist offene Kommunikation mit Regierungskräften und bewaffneten Gruppen», so IKRK-Sprecher Ewan Watson. «Jedoch hat das IKRK in den letzten Jarhen eine Fragmentierung und Ausbreitung bewaffneter Gruppen, ein Fakt, der es schwieriger macht, Sicherheitsgarantien für unsere Arbeit zu schaffen.»

Sofia Sprechmann sagt, dass in einigen Gebieten womöglich ein Vertrauensverlust in NGOs –  in einem kolonialen Kontext – zu  den Angriffen jüngeren Datums beigetragen hat.

CARE und andere internationale Hilfsgruppen arbeiteten zusammen daran, den Sektor zu entkolonialisieren und ein diverseres und repräsentativeres Angestelltenfeld zu schaffen.

Ein Hilfskonvoi auf einer Landstrasse in der Demokratischen Republik Kongo
Ein Konvoi von Entwicklungshelfer:innen überholt drei Männer auf einer Strasse in den Masisi-Bergen im Osten der Demokratischen Republik Kongo. Die Region wird seit fast 30 Jahren von bewaffneten Konflikten erschüttert. Afp Or Licensors

Wie in anderen grossen Organisationen bereiten sich Mitarbeitende von CARE regelmässig in sogenannten Hostile-Environment-Awareness-Trainings (HEAT) auf mögliche Kidnappingversuche und Angriffe vor. Und sie haben den Zugang zu psychosozialer Unterstützung nach traumatischen Erfahrungen.

Aber die Situation für die Hilfsorganisationen ist schwierig: Seit Anfang 2022 hat die Zahl der Personen, die weltweit humanitäre Unterstützung benötigen, um 30 Prozent zugenommen. Eine geschätzte Zahl von 360 Millionen Menschen brauchen Hilfe. Angesichts dessen und wegen der höheren Ausgaben für Hilfslieferungen in die Ukraine steigen die Sicherheitskosten.

«Mit der gleichen Anzahl Dollars kannst du weniger Menschen erreichen, das schafft, natürlich, einen perfekten Sturm», sagte Sprechmann.

Falschinformationen als Waffen

Gleichzeitig warnt Christina Wille, Direktorin von Insecurity Insight, die Sicherheitsberatung für Hilfsagenturen anbieten, dass auch Falschinformationen auf den Sozialen Medien dazu führen können, dass die humanitären Prinzipien, nach denen Hilfswerke arbeiten, nicht oder falsch verstanden werden. Das untergräbt die Fähigkeit der Organisationen, unparteiische Hilfe für all jene zu vermitteln, die darauf angewiesen sind.

«Die Aktivitäten werden oft falsch dargestellt als eine Parteinahme in irgendeiner Form. Das führt zu einer sehr ernsthaften Verkleinerung des humanitären Raums», sagt Wille.

Das IKRK hat dieses Jahr ein Statement veröffentlicht, nachdem falsche Gerüchte über seine Mission in der Ukraine verberitet worden waren, inklusive der Behauptung, dass das IKRK beim Zwangstransport von ukrainischen Zivilist:innen nach Russland beteiligt gewesen sei.

Hasan, der weiterhin in Therapie ist, um seine Ängste zu überwinden, reagierte nachdenklich auf die Frage, ob eine Rückkehr zu mehr Sicherheit für Hilfswerke möglich sei.

«Die dunklen Kräfte werden sich immer verstecken und wieder an der Oberfläche erscheinen, wenn wir verletzlich sind», sagt er. «Alles, was wir tun müssen, ist, uns vorzubereiten und parat zu sein. Zusammen können wir veranschaulichen, was gebündeltes Engagement vermag, um Krisen entgegenzutreten und jene zu unterstützen, die von Tragödien betroffen sind.»

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