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Wie die Schweiz zur Glaubwürdigkeit der UNO beitragen könnte

Die Schweizer UNO-Botschafterin und der Bundespräsident.
Ignazio Cassis, Schweizer Bundespräsident und Aussenminister, war zusammen mit der UNO-Botschafterin Pascale Baeriswyl im Juni an der UNO-Generalversammlung in New York, als die Schweiz erstmals in den Sicherheitsrat gewählt wurde. © Keystone / Alessandro Della Valle

Anfang 2023 nimmt die Schweiz Einsitz im UNO-Sicherheitsrat. Dort will sie sich für Frieden, Sicherheit und Reformen einsetzen – eine grosse Aufgabe in der aktuellen Weltlage.

Die Schweiz wird für zwei Jahre als nicht ständiges Mitglied des 15-köpfigen Sicherheitsrats der Vereinten Nationen UNO fungieren. Dieser ist das wichtigste Gremium zur Gewährleistung von Frieden und Sicherheit in der Welt. Aber seine ohnehin schon angeschlagene Glaubwürdigkeit wurde durch sein Versagen, den Krieg in der Ukraine zu beenden, weiter untergraben. Russland – als eine Vetomacht (neben den USA, China, Frankreich und dem Vereinigten Königreich) blockierte zudem eine Resolution, in der dessen Invasion der Ukraine verurteilt wurde.

Kann die kleine Schweiz ohne Vetorecht also dazu beitragen, Reformen voranzutreiben?

«Auf jeden Fall», sagt Thomas Biersteker, Honorarprofessor am Graduate Institute in Genf, der mit dem Schweizer Aussenministerium zusammengearbeitet hat und als Experte für den Sicherheitsrat gilt. «Die Schweiz tut dies bereits seit mehr als einem Jahrzehnt. Aber als Mitglied des Gremiums hat sie die Möglichkeit, einen besseren Zugang zu erhalten und vorrangige Themen anzusprechen, als dies in der Vergangenheit der Fall war.»

Die Schweizer Regierung hat sich für ihre Mitgliedschaft im Rat vier Prioritäten gesetzt, erklärt Thomas Gürber, Leiter der UNO-Abteilung des Schweizer Aussendepartements: Die Förderung eines nachhaltigen Friedens, der Schutz der Zivilbevölkerung, die Klimasicherheit und eine erhöhte Wirksamkeit des Rates. Die Schweiz wolle «mit allen Partnern zusammenarbeiten» und ihre friedenspolitische Expertise zur Verfügung stellen, so Gürber. Die Schweiz wird auch zweimal den Vorsitz im Rat übernehmen, im Mai 2023 und dann wieder für einen Monat im Jahr 2024. Dies «wird uns die Möglichkeit geben, unsere Prioritäten in die Diskussionen einzubringen».

Ein Schweizer Diplomat sagte gegenüber SWI swissinfo.ch, dass die wichtigste Aufgabe, wenn auch nicht die spektakulärste, im Moment wohl darin bestehe, «zu versuchen, die bedrohte internationale Rechtsordnung zu schützen» und dass «wir versuchen werden, das internationale Recht zu unterstützen und zu stärken und Allianzen mit anderen aufzubauen», die dasselbe wollen. Das möge abstrakt klingen, räumt der Diplomat ein, aber «das ist eine tägliche Aufgabe bei jeder Resolution».

Der Einmarsch Russlands in der Ukraine wird weithin als Verstoss gegen das Völkerrecht und die UNO-Charta anerkannt. Grosse Besorgnis erregt auch der Angriff auf die zivile Infrastruktur, der gegen das humanitäre Völkerrecht im Sinne der Genfer Konvention verstösst. Zwar gibt es in der ganzen Welt auch viele andere Verstösse gegen das Völkerrecht, aber angesichts der Macht und der Stellung Russlands in der UNO ist dies besonders besorgniserregend.

Sicherheitsrat in einer «schwierigen» Lage

Adam Lupel, Vizepräsident und Geschäftsführer des Internationalen Friedensinstituts (IPI) in New York, bezeichnet die Situation im Sicherheitsrat als «dramatisch und schwierig». Sie könne sich nach Lupel jedoch noch verschlimmern. Zu Beginn des Ukraine-Krieges habe man befürchtet, dass der Rat völlig blockiert sein würde, sagte er gegenüber swissinfo.ch, aber er arbeite weiter, wenn auch an Geschäften, die unter den Grossmächten weniger umstritten seien. So hat er beispielsweise die Mandate zur Friedenssicherung in Afrika und im März das Mandat für die UNO-Unterstützungsmission in Afghanistan verlängert. Die Situation sei nicht so schlimm wie während des Kalten Krieges in den 1980er-Jahren, als ständige Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vetomächten USA und Sowjetunion das Gremium lähmten.

Gürber vom Schweizer Aussendepartement ist ebenfalls der Meinung, dass die Zeiten schwierig sind und der Überfall auf die Ukraine die Zusammenarbeit im Sicherheitsrat beeinträchtigt. «Der Rat hat auf die Entwicklung des Krieges in der Ukraine mit einer hohen Sitzungsfrequenz reagiert, ist aber aufgrund des russischen Vetos nicht in der Lage, Entscheidungen zur Ukraine zu treffen», erklärt er gegenüber swissinfo.ch.

In den letzten Jahren hat es der Rat auch versäumt, in Bezug auf Länder wie Syrien und Myanmar entschieden Massnahmen zu ergreifen, weil Russland und China ihr Veto eingelegt haben.

Gürber stimmt aber zu, dass die Dinge nicht komplett festgefahren sind, weil die Sitzungen wie geplant stattfinden und Entscheidungen getroffen werden. «Es bleibt jedoch abzuwarten, inwieweit die Zusammenarbeit ausserhalb des Ukraine-Dossier aufrechterhalten werden kann und ob der Sicherheitsrat handlungsfähig bleibt», fährt er fort. «Neben dem Krieg in der Ukraine fordern die aktuellen Mehrfachkrisen – etwa die Folgen der Pandemie, der Klimawandel und die Verknappung von Nahrungsmitteln und Energie – die internationale Gemeinschaft und den Sicherheitsrat heraus.»

Angesichts der Tatsache, dass sich die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats in mehr oder weniger gegensätzlichen Blöcken gegenüberstehen, sieht Biersteker die grösste Herausforderung für die Schweiz darin, «sich in der Politik des Rates zurechtzufinden und zu versuchen, die Kanäle offen zu halten». Diese Herausforderung stellt sich auch für andere gewählte Mitglieder, aber die Schweiz hat eine lange Geschichte als Brückenbauerin und Vermittlerin.

Schweizer Trümpfe

Was kann die Schweiz also einbringen? Botschafter Gürber erklärt, dass das Land in allen von ihm festgelegten Schwerpunktbereichen eine glaubwürdige und von der internationalen Gemeinschaft anerkannte Erfolgsbilanz vorweisen kann, «zum Beispiel im Bereich der Guten Dienste oder in unserer humanitären Arbeit».

Biersteker bestätigt, dass die Neutralität der Schweiz und ihre «Zugänglichkeit» für Konfliktparteien ein Vorteil sein sollte. «Ich denke, sie hat auch Kapazitäten», sagt er gegenüber swissinfo.ch. «Und damit meine ich ein hochwertiges diplomatisches Korps, das fähig, fair und ausgewogen ist. Die Schweiz hat Kapazitäten, die die anderen gewählten Mitglieder nicht haben.»

«Der Sicherheitsrat befindet sich angesichts der Beziehungen zwischen den Grossmächten in einer schwierigen Lage», sagt Lupel. «Aber es gibt Möglichkeiten, Arbeit zu leisten. Und ich denke, dass die Schweiz aufgrund ihrer Position als Brückenbauerin, als anerkannte Verfechterin des Völkerrechts und als Gastgeberin der Genfer Konvention gut positioniert ist, um diese Arbeit positiv zu beeinflussen.»

Das Veto abbauen

Seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine hat sich das Interesse auf die Frage konzentriert, ob das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder abgeschafft oder eingeschränkt werden könnte. Dabei handelt es sich um ein altes, institutionelles Problem, und Russland ist nicht das einzige Mitglied der sogenannten P5, welches in der Vergangenheit sein Veto eingelegt hat, um missliebige Resolutionen zu blockieren. Das Vetorecht war ein Zugeständnis an die Grossmächte, um sie davon zu überzeugen, sich an der Gründung der UNO im Jahr 1945 nach dem Zweiten Weltkrieg zu beteiligen. Dies, nachdem die Vorgängerorganisation, der Völkerbund, an seiner Handlungsunfähigkeit gescheitert war.

«Die Schweiz ist keine Befürworterin des Vetos», sagt Gürber. «Die Abschaffung des Vetos würde jedoch eine Änderung der UNO-Charta erfordern und wäre nur mit der Zustimmung von zwei Dritteln der UNO-Mitgliedstaaten und aller Vetomächte möglich. Dies ist nicht realistisch. Die Schweiz setzt sich deshalb für mehr Transparenz und Effizienz im UNO-Sicherheitsrat ein. Die Schweiz versteht sich in dieser Diskussion als Brückenbauerin.»

Auch als Nichtmitglied hat sich die Schweiz bereits dafür eingesetzt. Sie fordert seit langem, dass Vetomächte in Fällen von internationalen Verbrechen darauf verzichten. Gürber weist darauf hin, dass die Accountability, Coherence and Transparency Group (ACT) bei der UNO, eine überregionale Gruppe kleiner und mittlerer Länder, die von der Schweiz koordiniert wird, 2015 einen «Code of Conduct regarding Security Council action against genocide, crimes against humanity or war crimes» vorgeschlagen hat. Darin werden alle Mitglieder des Sicherheitsrats aufgefordert, nicht gegen glaubwürdige Resolutionsentwürfe zu stimmen, die darauf abzielen, Massengräueltaten zu verhindern oder zu stoppen. Mehr als 120 Staaten haben den Verhaltenskodex unterzeichnet, «und wir möchten diese Zahl weiter erhöhen», sagt Gürber.

Die Schweiz unterstützte im April in der UNO-Generalversammlung auch eine Resolution, die diejenigen, die von ihrem Vetorecht Gebrauch machen, stärker zur Verantwortung zieht. Die Resolution sieht vor, dass die Veto-Macht ihre Entscheidung vor der 193 Mitglieder zählenden Generalversammlung erläutern muss. Die Generalversammlung hat keine bindenden Befugnisse wie der Sicherheitsrat, aber sie umfasst alle UNO-Mitgliedstaaten und besitzt moralische Autorität. Diese Resolution wurde von einem anderen Kleinstaat, Liechtenstein, eingebracht.

Die neue Regel hat Russland und China nicht davon abgehalten, ihr Veto einzulegen (gegen vorgeschlagene Resolutionen zur Ausweitung der humanitären Korridore in Syrien und zu Sanktionen gegen Nordkorea), aber sie mussten sich erklären und sich einer Debatte stellen. Nach Ansicht von Expert:innen ist es noch zu früh, um zu sagen, ob diese neue Regel längerfristig den Veto-Gebrauch verändert. Aber sie sorgt mit Sicherheit für mehr Transparenz und diplomatischen Druck.

Brücken bauen

Die Schweiz hat eine Affinität zum westlichen Block, aber sie sagt, dass sie je nach Thema auch versuchen wird, mit Ländern aus anderen Regionen zusammenzuarbeiten. Unter den westlichen Ländern hat die Schweiz relativ gute Beziehungen zu China, die sie vielleicht bei Themen wie Klimawandel und Schutz der Zivilbevölkerung in Konflikten nutzen kann. Auch in Bezug auf Afrika, wo China Einfluss hat, könnte Bern mit Peking zusammenarbeiten.

«Ich denke, die Schweiz hat sehr gute Beziehungen zu China», sagt Lupel. «Die Schweiz könnte also vielleicht als Brücke zwischen Europa und China und dann zwischen China und Russland dienen.»

Russland hat die Schweiz als «unfreundliches Land» bezeichnet, nachdem Bern den EU-Sanktionen gegen Moskau wegen des Angriffs auf die Ukraine gefolgt war. Russland hat auch das Angebot der Schweiz abgelehnt, russische Interessen in der Ukraine zu vertreten und umgekehrt (was von der Ukraine angenommen wurde). Allerdings wurde der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis am Rande der UNO-Vollversammlung im September beim Händeschütteln mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow gesehen. Dies war nicht unumstritten.

«Ich bin natürlich kein Unterstützer von Russlands Invasion in der Ukraine, aber ich denke, es ist sehr wichtig, einige Kanäle offen zu halten», sagt Biersteker. «Irgendwann wird der Krieg zu Ende sein, hoffentlich eher früher als später. Irgendwann wird es eine Verhandlungslösung geben. Man kann nicht einfach andere verunglimpfen, dämonisieren, auch wenn man ihr Handeln und Verhalten zutiefst kritisiert. Ich denke, die Schweiz kann auch hier die Schlüsselrolle der Neutralität spielen.»

Editiert von Imogen Foulkes. Übertragung aus dem Englischen: Benjamin von Wyl

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