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Simonetta Sommaruga und das Dilemma der direkten Demokratie

Als Bundespräsidentin wird Simonetta Sommaruga 2015 auch die Schweiz im Ausland vertreten. 13 Photo

Den Volkswillen in Einklang bringen mit nationalem Recht und den Verpflichtungen internationaler Verträge: Dies ist die schwierigste Aufgabe, die Simonetta Sommaruga – am 3. Dezember zur Bundespräsidentin 2015 gewählt – erwartet. Unter anderem wird von der Sozialdemokratin eine Lösung in der Frage der "Masseneinwanderungs-Initiative" erwartet.

Simonetta Sommaruga ist vom Parlament mit 181 Stimmen zur Bundespräsidentin gewählt worden. Der Sozialdemokratin, seit 2010 Mitglied der Regierung, wurde damals von ihren Bundesrats-Kolleginnen und -Kollegen das Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) zugeteilt. Einige Beobachter bezeichneten das Departement damals als «Kategorie B».

Fünfte Bundespräsidentin

Simonetta Sommaruga präsidiert im Jahr 2015 den Bundesrat. Die Bundesversammlung hat die 54-jährige Bernerin mit 181 von 210 gültigen Stimmen gewählt. Die Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) folgt auf den FDP-Bundesrat Didier Burkhalter.

Sommaruga machte ein sehr gutes Resultat – das beste, das eine Frau je erzielt hat. In den vergangenen zehn Jahren erzielten nur Pascal Couchepin (197), Hans-Rudolf Merz (185) und Didier Burkhalter (183) mehr Stimmen – alles FDP-Bundesräte.

Justizministerin Sommaruga ist die fünfte Frau, die Bundespräsidentin wird. Ihre Vorgängerinnen hiessen Ruth Dreifuss (1999), Micheline Calmy-Rey (2007 und 2011), Doris Leuthard (2010) und Eveline Widmer-Schlumpf (2012).

(Quelle: sda)

Der Zuteilungsentscheid hatte besonders Sozialdemokraten erzürnt, denn erstmals seit Jahrzehnten fanden sich diese ohne Vertretung in einem der Schlüsseldepartemente wieder.

Mit ihrer typischen konzilianten Art versuchte die Neugewählte daraufhin, diesen «Tiefschlag» für ihre Partei abzufedern und die Bedeutung ihres Departements aufzuwerten. «Ich verfüge über einen grossen Gerechtigkeitssinn», und dieses Amt erlaube ihr, «mich mit den Rechten der Schwächsten und jener, die am dringendsten Schutz nötig haben, zu beschäftigen», sagte sie. Sie meinte damit Minderheiten, diskriminierte oder missbrauchte Frauen, Scheidungskinder, Asylbewerber und Opfer von Menschenhandel.

In diesem Bereich hat die Justizministerin viel getan, seit sie im Amt ist. Sie lancierte eine Reihe von Vorschlägen, Gesetzesentwürfen und Gesprächen am runden Tisch. Ende November konnte sie die Regierung für ein Gesetzesprojekt überzeugen, das die Einführung einer Frauenquote von mindestens 30% in Verwaltungsräten von Schweizer Unternehmen vorsieht, die an der Börse gehandelt werden. Und ein weiteres Projekt soll Lebenspartnern und gleichgeschlechtlichen Paaren erlauben, die Kinder des Partners zu adoptieren.

Heissestes Dossier

In ihrem ersten Jahr als Bundespräsidentin aber wird sich die Berner Sozialdemokratin zum Grosssteil mit «Mehrheitsrechten» beschäftigen müssen, das heisst, mit dem Volkswillen, der bei den Eidgenössischen Abstimmungen geäussert wurde.

Simonetta Sommaruga muss die delikate Aufgabe übernehmen, Kompromisslösungen zu finden, um verschiedene gewichtige Initiativen umzusetzen, die vom Stimmvolk in den letzten Jahren angenommen wurden, die jedoch mit der nationalen Gesetzgebung oder internationalen Verträgen der Schweiz in Konflikt stehen.

Drei Sozialdemokraten an der Spitze

2015 werden die beiden Parlamentskammern wie auch die Schweizer Regierung erstmals von drei Vertretern der Sozialdemokratischen Partei präsidiert.

Während die Bernerin Simonetta Sommaruga das Bundespräsidium übernimmt, ist der Walliser Stéphane Rossini Nationalrats-Präsident und der Jurassier Claude Hêche Präsident des Ständerats.

Vize-Bundespräsident ist 2015 Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann. Der Bundesrat der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP.Die Liberalen) stammt ebenfalls aus dem Kanton Bern.

Zuallererst ist dies die Volksinitiative «gegen Masseneinwanderung» der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP), welche die Einführung von Einwanderungs-Kontingenten fordert, um den Zulauf ausländischer Arbeitnehmer zu beschränken. Für die Europäische Union (EU) verstösst das Votum des Stimmvolks vom 9. Februar 2014 klar gegen das Abkommen über den freien Personenverkehr und könnte zu einer Kündigung der Bilateralen Verträge führen.

Weil so viel auf dem Spiel steht, nämlich die Zukunft der Beziehungen zum wichtigsten Wirtschaftspartner der Schweiz, wird Justizministerin Sommaruga deshalb besonders mit dem vermutlich heisstesten Dossier des Wahljahrs 2015 beschäftigt sein. 

Die EJPD-Vorsteherin, die laut eigenen Angaben in der Politik vor allem den Ideenaustausch und die Konkordanz schätzt, muss in den nächsten Monaten die Quadratur des Kreises finden – zwischen der Respektierung der direkten Demokratie einerseits und den Verpflichtungen gegenüber der EU andererseits.

Als Bundespräsidentin wird sie von ihren Präsidialjahr insofern profitieren können, als sie ihre Treffen mit europäischen Führungsfiguren vervielfachen kann – unter anderem auf der Agenda steht ein Staatsbesuch des französischen Präsidenten François Hollande.

Priorität für Schweizer Recht

Simonetta Sommaruga 

Sommaruga wurde 1960 in Zug geboren und wuchs im Kanton Aargau auf. Ihr Vater stammte aus dem Kanton Tessin.

1983 erwarb sie am Konservatorium Luzern ein Diplom als Konzertpianistin.

Nach Abbruch ihres Musikberufs und eines Studiums der englischen und spanischen Literatur in Freiburg übernahm sie 1993 die Direktion der Stiftung für Konsumentenschutz (SKS). 2000 wurde sie zu deren Präsidentin gewählt.

1986 trat sie der Sozialdemokratischen Partei bei. 2001 unterschrieb sie ein Manifest, in dem sie eine liberalere Linie für die Partei vorschlug. Dies provozierte heftige Reaktionen aus Gewerkschaftskreisen und dem linken Parteiflügel.

1999 wurde Sommaruga in den Nationalrat gewählt, 2003 schaffte sie den Einzug in den Ständerat für den Kanton Bern. 2010 wählte sie die Vereinigte Bundesversammlung in den Bundesrat.

Auf dem Pult der künftigen Bundespräsidentin liegt aber ebenso das Dossier der Initiative «für die Ausschaffung krimineller Ausländer», auch diese eingereicht durch die SVP und vom Stimmvolk 2010 angenommen. Gemäss Wortlaut der Initiative sollen alle Ausländer ihr Aufenthaltsrecht verlieren und in ihr Herkunftsland abgeschoben werden, die schwere Verbrechen, aber auch kleinere Delikte wie Diebstahl begangen haben.

Die beiden Kammern des Eidgenössischen Parlaments sind sich über die Umsetzung dieser Initiative noch uneinig. Sie steht für verschiedene Experten nicht nur in Konflikt mit den Abkommen mit der EU, sondern auch mit der Europäischen Menschenrechts-Konvention. Um Druck auf Regierung und Parlament auszuüben, hat die SVP eine weitere Initiative angekündigt, welche die Priorität des Schweizer Rechts vor internationales Recht setzen will.

Simonetta Sommaruga muss sich ebenfalls mit der Initiative «Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen» auseinandersetzen, die das Stimmvolk gegen den Willen der Regierung am 18. Mai 2014 angenommen hat. Auch dieser Initiativtext stellt die Ministerin vor ein Dilemma: Die vorgesehenen Sanktionen treffen auch Fälle geringfügiger Vergehen von Pädophilie und würden somit dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit widersprechen – einer der Grundpfeiler des Rechtsstaats.

Baustelle Asyl

Nicht vernachlässigen sollte die Bundespräsidentin auch das Dossier Asylgesetz-Revision. Ihr erstes Projekt, 2012 präsentiert, zielte darauf ab, die Prüfungsverfahren von Asylanfragen zu beschleunigen und die Verwaltung der Aufnahmezentren für Asylbewerber bei der Eidgenossenschaft zu zentralisieren.

Von diesem Projekt ist aber nur noch wenig übriggeblieben: Die Parlamentsmehrheit aus Mitte-Rechts hat es in ein neues Paket von Massnahmen überführt, mit denen das Asylrecht verschärft werden soll.

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Im September 2014 stieg Simonetta Sommaruga mit neuen Vorschlägen in die Arena, mit dem Ziel, die Prozedur schneller und kostengünstiger zu gestalten: Die Mehrheit der Anträge soll in weniger als 140 Tagen bearbeitet werden.

Trotzdem bleibt das Problem der Rückkehr abgelehnter Antragsteller bestehen, wie auch das der Abschiebung in jene europäischen Länder, in denen bereits ein Asylantrag gestellt wurde. Ende November haben Bern und Rom einen neuen Vertrag unterzeichnet, gemäss dem sich Italien verpflichtet, geeignete Empfangs- und Betreuungsstrukturen zu garantieren. Die Tragweite dieses Vertrags mit jenem Land, aus dem die grösste Anzahl Asylbewerber einreisen, bleibt jedoch ungewiss.

Untypische Ministerin

Sommaruga, die sich an der Spitze des EJPD mit juristischen Feinheiten beschäftigen muss, ist selber keine Juristin – wie der Grossteil ihrer Vorgänger. Sie verfügt nicht einmal über einen Hochschulabschluss. Sie liess sich am Konservatorium Luzern zur Konzertpianistin ausbilden und politisierte sich während ihrer Arbeit im Frauenhaus in Freiburg. Bekannt und weithin beliebt wurde sie in ihrer späteren Rolle als Konsumentenschützerin.

Sie ist schmächtig, schüchtern und zurückhaltend, aber auch extrem kompetent, pragmatisch und hartnäckig genug, um sich Respekt und Lob auch bei ihren politischen Gegnern zu holen, sei es im Parlament oder in der Landesregierung. Zu ihren wichtigsten Eigenschaften zählen Beobachter, dass sie anderen zuhören kann. «Das habe ich von der Musik gelernt», sagt sie dazu. Ein gutes Musikgehör wird sie brauchen, um sich den schwierigen Herausforderungen zu stellen, die sie in ihrem Präsidialjahr erwarten.

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(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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