@slim404, tunesischer Pirat der #Freiheit
Der Internetaktivist Slim Amamou spielte im Kampf gegen die Zensur unter dem Regime von Ben Ali eine wichtige Rolle. Heute träumt der Mitbegründer der Piratenpartei in Tunesien von der Einführung der direkten Demokratie dank dem Internet, nebst anderen Projekten.
Wie schafft man es, auf Twitter 173’000 Follower zu haben? «Man muss im Gefängnis gewesen sein», scherzt Slim AmamouExterner Link. Der 37-jährige tunesische Internetaktivist ist eine der Symbolfiguren der Revolution vom 14. Januar 2011. Er nimmt am Global Forum on Modern Direct Democracy 2015Externer Link teil. Die Veranstaltung, bei der swissinfo.ch als Partner fungiert, findet vom 14. bis zum 17. Mai in Tunis statt. Wir haben ihn vor einigen Tagen in einem Restaurant in der tunesischen Hauptstadt getroffen.
Bekannt wurde Slim Amamou durch sein Engagement im Kampf gegen die Internetzensur unter dem Regime von Ben Ali. Sein Name auf Twitter, @slim404, ist eine Anspielung auf Ammar 404, einer fiktiven Person, welche die Tunesier in Anlehnung zur Meldung “404 Not Found“ erfunden haben und die auf der Seite der vom Regime blockierten Webseiten jeweils erschien. Vor der Revolution war Tunesien auf der Liste der «ärgsten Feinde des Internets», die von den Reportern ohne Grenzen erstellt wurde, zusammen mit China, Myanmar und Nordkorea. Jede noch so harmlose E-Mail wurde überprüft.
Der Beginn seines Kampfes
Nichts deutete darauf hin, dass der Sohn eines Ärzte-Ehepaars im öffentlichen Dienst ein Aktivist werden würde. «Der Auslöser dazu waren vielleicht die Wahlen von 2009. Das war widerlich. Der Typ (Ben Ali, Anm. der Red.) ist über 70 Jahre alt, er ist seit über 20 Jahren an der Macht, und es ist kein Ende in Sicht. Enorme Summen für die Wahlkampagne wurden ausgegeben, obwohl alle wussten, dass es gar keine Wahlen gab», erinnert er sich. Zu dieser Zeit schreibt der ausgebildete Informatiker bereits über das Thema Zensur in seinem Blog.
Im folgenden Jahr beginnt er zu handeln. Mit andern Aktivisten lanciert er eine Kampagne im Netz. Thema ist die Kontrolle des Web – «Sayeb SalahExterner Link» – und er versucht, mitten in Tunis eine Demonstration auf die Beine zu stellen. Es bleibt beim Versuch, denn der Aufmarsch ist verboten. Am helllichten Tag wird Slim Amamou von den Schergen des Regimes entführt, ebenso wie der Mitorganisator Yassine Ayari. Das Duo wird nach einigen Stunden wieder freigelassen.
Sieben Daten
8. November 1977 Geburt in Tunis.
August 2007 Erster Tweet.
2008 Gründung einer Firma für Webapplikationen für Unternehmungen.
6. Januar 2011 Festnahme in Tunis. Freilassung am 13. Januar, am Vorabend der Revolution.
17. Januar 2011 Berufung in die Regierung der Nationalen Einheit als Staatssekretär für Jugend und Sport.
25 Mai 2011 Rücktritt von seinem Amt in der Regierung.
Avril 2012 Gründung der Piratenpartei Tunesien.
Die kleine Gruppe, die am Anfang des Kreuzzuges gegen die Zensur stand, wird immer grösser, und als im Dezember 2010 in Sidi Bouzid (im Landesinnern) nach der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Bouazizi sich die Unruhen in eine Revolte ausweiten, ändert sich die Dimension des Kampfes. «Man musste die Leute zu Demonstrationen aufrufen, die Presse informieren, die tunesischen Oppositionellen über die Methoden aufklären, wie man die Restriktionen beim Gebrauch des Internets umgehen konnte.»
Erneute Festnahme
Durch die Ereignisse alarmiert, lanciert das Hacker-Kollektiv Anonymous die «Operation Tunesien» und nimmt die Webseiten der Regierung ins Visier. Die internationale Presse beginnt sich für die Unruhen zu interessieren, die das Land erschüttern. Am 6. Januar 2011 wird Slim Amamou wieder verhaftet, zusammen mit seinem Freund Azyz Amami, wegen Komplizenschaft mit Anonymous. Dieses Mal lernt er die Schrecken des Kerkers des Innenministeriums kennen. «Ich bekam Ohrfeigen und Fusstritte, doch vor allem wurde ich am Schlafen gehindert und war immer in Handschellen.»
Am 13. Januar wird er freigelassen, just nach der letzten Fernsehansprache von Ben Ali, am Vorabend seiner Flucht nach Saudi-Arabien. «Als ich entlassen wurde, konnte ich nicht mehr gehen wegen Folgeschäden am Rücken.» Slim Amamou betont jedoch, dass die Misshandlungen, die er erdulden musste, nichts sind im Vergleich zu dem, was andere durchgemacht haben. Gewisse Leute, namentlich die Islamisten, haben Schreckliches erlitten.
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Durch eine überraschende Wende in der Geschichte wird Slim Amamou unmittelbar nach der Revolution für den Posten des Staatssekretärs für Jugend und Sport in der Regierung der Nationalen Einheit vorgeschlagen. Zahlreiche Minister des alten Regimes sind immer noch im Amt, darunter der Premierminister Mohamed Ghannouchi (der unter dem Druck vom Volk rasch zurücktreten wird). Diesen Umstand kritisiert ein Teil der Revolutionäre, sie beschuldigen Slim Amamou, ihre Ziele zu kompromittieren. Am 17. Januar tritt Amamou sein Amt an und schon vier Monate später gibt er seinen Rücktritt bekannt.
War die Annahme des Postens ein Fehler? «Überhaupt nicht. Doch im Moment war es unerträglich. Du bist den ganzen Tag Beleidigungen ausgesetzt, trotzdem war es wichtig, dass ich da war. Mitglieder der alten Regierung, denen niemand vertraute, schlugen mir vor, an ihren Ministersitzungen teilzunehmen, ein Angebot, das ich nicht ausschlagen konnte. Meine Rolle war es, an den Sitzungen zu überprüfen, was dort gesagt wurde und ob alles seriös war. Ich machte «live tweets». Ich habe darauf gewartet, dass das Wahlgesetz aufgegleist wurde.»
Die Macht dem Volk
Seitdem hat Tunesien Fortschritte gemacht. Parlaments- und Präsidentschaftswahlen wurden Ende 2014 durchgeführt, und die Zensur ist verschwunden. Slim Amamou jedoch bleibt wachsam. Er ist beunruhigt über Versuche, das Internet im Namen von Geistigem Eigentum oder im Kampf gegen Terrorismus und Internetkriminalität zu überwachen. Aktuell kämpft er mit der Piratenpartei TunesienExterner Link, die er 2012 mitbegründet hat, für die Entkriminalisierung von Marihuana, für die Neutralität des Webs, für eine Reform des Geistigen Eigentums (er ist gegen die «Vermarktung der Ideen») und für die direkte Demokratie.
In diesem Punkt verficht der Informatiker die absolute Macht des Volkes dank dem Internet. Schematisch dargestellt, wäre das letzte Ziel, eine Plattform vom Typ Facebook zu entwickeln, wo jeder Tunesier direkt Gesetze unterbreiten und darüber abstimmen könnte. Bei diesem Modell hätten die Parlamentarier kein Vorschlags- oder Entscheidungsvorrecht. Sie wären «professionelle Moderatoren» mit dem Auftrag, über Gesetzesprojekte zu debattieren und sie nach den rechtlichen Normen zu verfassen.
Die Piratenpartei Tunesien – nicht zu verwechseln mit der Tunesischen Piratenpartei, die von der internationalen Piratenpartei nicht anerkannt ist – wird für diese Idee bei den Parlamentswahlen 2019 kämpfen. «Unsere Strategie geht dahin, mindestens einen Kandidaten ins Parlament zu bringen. Es könnte sein, dass dieser Kandidat Slim Amamou ist. «Ich rechne damit, anzutreten!»
(Übertragung aus dem Französischen: Christine Fuhrer)
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